1. Startseite
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Existiert noch eine Moral?

Theaterkritik Existiert noch eine Moral?

Bertolt Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ feiert Premiere als Inszenierung ohne reißerische Effekte in Magdeburg.

Von Gisela Begrich 04.10.2019, 23:01

Magdeburg l Das Magdeburger Schauspiel eröffnete am Donnerstag mit „Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht in der Regie von Tim Kramer, dem neuen Chef des Sprechtheaters, einen Reigen an Premieren. Da herrschte hohe Spannung. Wie gelingt es, sich per Lehrstück aus dem Jahr 1940 mit den Problemen der Zeit auseinanderzusetzen und das Publikum zu unterhalten?

Ausgangssituation: Die Moral zerfällt auf der Erde und drei Götter suchen nach den letzten guten Menschen. Neun Darsteller, vier Frauen und fünf Männer, spielen zu diesem Zweck mehr als 20 Rollen. So ist modernes Theater, da müssen, weil es an Geld für Stellen fehlt, selbst Götter noch andere Rollen übernehmen. Die drei Ewigen sind in einem Gewand gefesselt (Kostüme: Gernot Sommerfeld). Auf alle szenischen Wendungen können sie nur ungelenk reagieren. Das erweckt Hoffnung, das Jetzt und Heute erfährt Resonanz. Denn den zeitgenössischen Politiker limitieren in seiner Entscheidungsfreiheit Koalitionsvereinbarungen und Gesetzesvorgaben, und er zeigt gerne, sich verrenkend, nach Berlin und Brüssel. Diese Hoffnung hält an, wenn Verwandte und Freunde der Shen Te in deren neu eröffneten Laden strömen, um an dem bescheidenen Wohlstand zu nassauern, weil die Protagonisten, im Besonderen Frederik F. Günther, Burkhard Wolf und Undine Schmiedl, ideenreich Haltungen und Töne zu deren Charakterisierung finden. Doch bald offenbart sich, dass die schönen komödiantischen Erfindungen für die jeweiligen Figuren nicht für gut zwei Stunden ausreichen, die Dürftigkeit von Fabel und Handlung zu kompensieren. Diesen Sinnverfall richten die Jahre von 1940 zu 2019 an.

Das Regieteam strich zwar den Text äußerst geschickt ein, um rasche Abfolgen zu schaffen, wozu das Bühnenbild von Gernot Sommerfeld gut beiträgt. Es stellt sich aber auch die Frage, ob Kürzungen nicht hier und da schauspielerische Momente eliminierten. Prinzipiell setzt Regisseur Tim Kramer auf Werktreue und betont den inhaltlichen Kern. Er geht damit auf geistiges Risiko, auch was das Musikalische anbetrifft (Leitung Tobias Schwencke). Es musizieren zwar der renommierte Magdeburger Michael Homann (ehemals u.a. Scheselong) sowie Valentin Kleinschmidt (Gitarre, Trompete), Frederik F. Günther (Gitarre) und Susi Wirth (Akkordeon), dennoch verharren die Lieder eher im Handwerklichen, als dass deutliche Akzente geschehen. Ein großes Plus: Maike Schroeter überzeugt als Shen Te, welche die Götter als den guten Menschen vor Ort ausmachen, mit Charme und selbstverständlicher Direktheit. Ihr Shui Ta dagegen kommt etwas zu brav konventionell daher.

Alle Mitwirkenden spielen engagiert und in mehreren Rollen: Wie Peter Donath als Wasserverkäufer Wang und Bonze, Susi Wirth u. a. als Witwe Shin und Iris Albrecht u. a. als Die Hausbesitzerin oder Die Alte. Philip Heimke (u. a. 2. Gott) kann als Kellner sein Talent für das Komische und Artistische zeigen, und Burkhard Wolf spielt den Barbier Shu in einer gekonnten differenzierten Unklarheit des Moralischen. Valentin Kleinschmidt verkörpert u. a. den Flieger Yang Sun und diesen in einer Palette zwischen Sensibilität und Macho.

Das Manko: Das Lehrstückhafte lastet auf dem ganzen Abend wie Blei und treibt die Aufführung ins Dröge. Das Vertrauen in den Text von Brecht, so anerkennenswert dies ist, erweist sich letztlich als Irrtum und führt zu einer misslichen Zeitferne, weil eine Inspiration, um an eine Gegenwärtigkeit anzudocken, fehlt. Ein Gewinn der Aufführung besteht darin, den Mut zu haben, Theater ohne reißerische Effekte zu bieten. Das macht in Zukunft auf ein Konzept neugierig, das Inhalte bevorzugt. Und das ist etwas, was dringend gebraucht wird, Schauspiel zu verteidigen und zu erhalten.