Eine Begegnung mit dem Künstler und Pädagogen Arno Stern und seinem Sohn André Von einem, der nie zur Schule ging
Der Film "Alphabet" zeigt Schule als Kreativitätskiller. Der Streifen,
der diese Woche in den Kinos angelaufen ist, bildet nach den
Dokumentationen "We feed the World" und "Let\'s make Money" den Abschluss
von Erwin Wagenhofers Trilogie. Die Volksstimme hat zwei der
Protagonisten getroffen.
Paris l André Stern sagt von sich, er sei ein 42-jähriges Kind. Ein Malort-Kind, das nie aufgehört hat zu spielen. Gemeinsam mit Regisseur Erwin Wagenhofer und Sabine Kriechbaum hat er das Buch zu dem Film "Alphabet" geschrieben und dazu die Filmmusik der Dokumentation geschaffen. Nach "We feed the World" und "Let\'s make Money" geht Wagenhofer verschiedenen Bildungssystemen auf die Spur. Und das radikal.
Das Buch "Und ich war niemals in der Schule" hatte Sabine Kriechbaum von einer Freundin empfohlen bekommen. Es stammt aus der Feder von André Stern, dem Sohn von Arno Stern, und eröffnet eine völlig andere Sicht auf das Thema Bildung. Sein Motto ist: "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans im Glück." Wichtig sei nur eines: die Begeisterung.
Er erfand den "Malort Paris"
1924 in Kassel geboren, wurde Arno Stern mit seiner Familie 1933 aus Deutschland vertrieben. Als er 1946 in einem Kriegswaisenhaus in Paris die Aufgabe bekam, 130 Kinder zu beschäftigen, sammelte er Papier und Bleistiftstummel zusammen und ließ sie zeichnen. Er erfand den "Malort Paris" und einen neuen Beruf, nämlich: Dienender des Malorts zu sein. Bis heute können Menschen ab zwei Jahre zu ihm kommen.
Derzeit hat Arno Stern drei Gruppen mit je 15 Teilnehmern. Mindestens ein Jahr lang einmal in der Woche sind sie in dem Malort und lassen den Pinsel über das Papier tanzen. Es sei ihre schönste Erfahrung, sagen sie. Am längsten ist ein heute 62-Jähriger dabei, der mit 11 anfing, den Malort zu besuchen. "Spielen heißt genießen", so Arno Stern, "dadurch kommt man zu sich selbst."
Der Anspruch im Malort sei ja nicht, ein Kunstwerk zu schaffen, sondern etwas zu erleben. So ist der Malort Paris, dem viele Malorte, unter anderem in Berlin, gefolgt sind, eine Chance, seine Gedanken laufen zu lassen und Möglichkeiten zu entdecken, die man vorher nicht gesehen hat.
André Stern ist ein Kind dieses Malorts; er besuchte nie eine Schule, bekam auch von seinen Eltern Arno und Michèle keinen Unterricht. Hatte er dadurch jemals einen Nachteil? Nein. Er arbeitet als Autor, Musiker, Gitarrenbauer, Journalist und leitet das "Institut Arno Stern - Labor zur Beobachtung und Erhaltung der spontanen Veranlagungen des Kindes" im Malort Paris.
"Es ist kein persönliches Verdienst, sondern etwas, das mir passiert ist", erklärt er im Interview. Seine Erfahrungen und seine Begeisterung in die Welt zu tragen, sieht er als wichtige Aufgabe, um Menschen zu zeigen, dass es andere Möglichkeiten gibt. In Österreich, Deutschland und der Schweiz ist das Interesse daran neben Frankreich besonders groß. Häufig sieht sich Stern interessierten Eltern und Pädagogen gegenüber, die fragen: Wie soll ich motivieren zu lernen, wenn ich weiß, wie wichtig Spielen ist?
Für André Stern ist alles eins: "Ich kann gar nicht zwischen Spielen und Lernen unterscheiden." Mit 18 entschied er sich, Deutsch zu lernen und beschäftigte sich mit zehn Lektionen am Tag, hörte nonstop Kassetten. Kein Lehrer unterbrach ihn nach 45 Minuten. Heute ist es seine Lieblingssprache, ein Beweis dafür, dass im Zustand der Begeisterung alles möglich ist.
Was alle in sich tragen, kann kein Privileg sein
Stern hatte Glück mit seinen Eltern, aber er sagt auch: "Ich bin ein banales Kind voller Offenheit. Was alle in sich tragen, kann kein Privileg sein." Wie er aufgewachsen ist, hing nicht von finanziellen Möglichkeiten ab. Es war eine Entscheidung.
Seit zwei Jahren erzählt Stern in Vorträgen von seiner Erfahrung ohne Schule, mit Liebe und Begeisterung, und veranstaltet Lesungen. Urlaub braucht er nicht, denn er findet die Begegnungen enorm bereichernd und ist nur selten mehr als zwei Tage weg von seiner Frau Pauline und seinem Sohn Antonin, der natürlich ebenfalls ohne Schule aufwachsen soll. "Weil ich begeistert bin, ermüdet mich der Alltag nicht", erklärt Stern, "ich bin froh, Teil dieses Abenteuers zu sein."
Im Film "Alphabet" zitiert Sir Ken Robinson abschließend Benjamin Franklin, der meint: Drei Arten von Menschen gibt es. Solche, die unbeweglich sind, solche, die beweglich sind und solche, die bewegen. Was wünscht sich André Stern? "Dass viele Menschen den Film sehen und bewegt sind, dass sie sehen, wie es sein könnte und die Bewegung weitergeht."