Literatur Vorstellung von echter Not verloren
Jenny Erpenbeck hat in ihrem neuen Roman das Schicksal von Flüchtlingen aufgegriffen.
Volksstimme: Ein Roman kann nicht aktueller sein. Haben Sie geahnt, was da auf uns zukommt?
Jenny Erpenbeck: Es gehört sicher zum Beruf, dass man manche Dinge früher wahrnimmt. Ich habe seit vielen Jahren schon Bücher zum Thema gelesen, Dokumentarfilme angeschaut. Mich hat interessiert, warum und auf welchen Wegen diese Menschen zu uns kommen. Ich hatte immer schon das Gefühl, dass Afrika eigentlich ein vergessener Kontinent ist. Mich hat das gewundert.
Was war der Anstoß für Ihre Recherche?
Als im Herbst 2013 zum ersten Mal bei einem Bootsunglück 400 Menschen im Mittelmeer ertranken, war ich schockiert über die Reaktionen der Deutschen, der Europäer. Da gab es in erster Linie nicht Mitgefühl oder Entsetzen, sondern ich hörte sofort Sätze mit Komma und einem Aber: „Ja, aber wir können nicht ganz Afrika hier aufnehmen …“ usw. Das muss man einmal vergleichen mit der Haltung, mit der wir auf Meldungen von verunglückten Menschen hier bei uns reagieren. Da gibt es offenbar zweierlei Maß.
Sie schreiben in Ihrem Roman vom Oranienplatz und den Flüchtlingen, die um ihre Aufenthaltserlaubnis kämpfen. Das ging Anfang des Jahres durch alle Medien.
Die Flüchtlinge am Oranienplatz standen für mich stellvertretend für viele andere. Sie kämpfen vor allen Dingen darum, dass sie, die in Italien längst als Flüchtlinge anerkannt sind, auch in anderen europäischen Ländern eine Arbeitserlaubnis erhalten.
Sie erzählen die realen Schicksale von Menschen. Warum haben Sie sich für einen Roman entschieden?
Weil ich Schriftstellerin bin. Es ist der Weg, den ich auch sonst wähle, um über Dinge wie Vergänglichkeit, Herkunft, Identität nachzudenken. Ich habe auch für meine anderen Bücher viel authentisches Material verwendet. Das ist der beste Weg, um sich in die Wahrnehmung der Figuren hineinzuversetzen – egal, in welchem Jahrhundert.
Sie konfrontieren den Leser mit Afrika und menschlichen Schicksalen. Was erfuhren Sie Neues, was war besonders erschreckend?
Für mich war vieles neu und vieles überraschend. Ein Beispiel sind die Uran-Lagerstätten im Niger, die ich im Buch beschreibe. Ein französischer Staatskonzern fördert dort Uran – der Strom, der mit der Kernkraft produziert wird, fließt dann auch in deutschen Leitungen. Dieser Konzern bewegt sich dort wirklich kriminell, kippt den Atommüll auf offene Deponien, verseucht das Grundwasser, sperrt große Gebiete ab, die früher Weiden oder Tränken für die Kamelherden waren.
Dadurch wird den Menschen die Existenzgrundlage entzogen, es gibt viel neue Armut, viele erkranken an Krebs, sterben. Wir in Europa sind die Nutznießer von all dem, aber wenn dann ein Flüchtling aus diesem Land hier ankommt, sagen wir: Den wollen wir hier nicht, der soll zurückgehen und seine Probleme in Afrika lösen!
Ihr Protagonist Richard ist ein emeritierter Professor, den Sie all das erleben lassen, was Sie bei den Flüchtlingen erfahren haben. Haben Sie sich bewusst für einen ostdeutschen Professor entschieden, weil es ihnen um Identität, um Brüche in der Biografie geht?
Es wurde mir tatsächlich erst beim Schreiben klar, dass es seine eigenen Erfahrungen von Fremdheit sind, die ihn mit den Flüchtlingen verbinden.
Richard ist aus dem Berufsleben ausgeschieden. Er langweilt sich. Wollen Sie damit das Warten, das Unausgefülltsein im Alltag von Flüchtlingen bewusster machen?
Richard langweilt sich nicht. Er ist nur auf einmal mit sich allein, sein gewohnter Alltag ist vorbei, und er muss sich neu orientieren. In dieser Situation, in der Ablenkung nicht mehr funktioniert, beginnt er, sich auf eine tiefere Art Gedanken darüber zu machen, wer er ist und was in seinem Leben das wirklich Wichtige ist. Dieses Nachdenken hat Richard mit den Flüchtlingen gemeinsam. Auch sie haben durch das Arbeitsverbot keine Beschäftigung, keinen neuen Lebensinhalt, sind gezwungen, sich zu erinnern. Und ihre Vergangenheit ist im Rückblick noch dazu alles andere als angenehm.
Wie haben Ihre Freunde auf Ihre Arbeit reagiert? Bei den Freunden Ihres Protagonisten erlebt man Verständnis, aber auch Ressentiments.
Ich habe von meinen guten Freunden durchweg Interesse, große Neugier und Offenheit erlebt, auch Erleichterung darüber, dass jemand den ersten Schritt macht. Es ist ja das Privileg meines Berufs, dass mir ein Buchprojekt immer einen guten Grund gibt, Fragen zu stellen. Im späteren Verlauf haben auch sie geholfen oder selbst Gespräche mit den Leuten geführt. Ressentiments habe ich durchweg nur bei Menschen erlebt, die mir nicht sehr nahestehen.
Ihr Richard geht auch auf Flüchtlinge zu, hilft bei Behördengängen, zum Schluss Ihres Buches quartiert er einige bei sich ein. Ist das eine Utopie?
Es kann keine Dauerlösung sein, aber vor dem Winter werden sich solche Fragen sicher stellen. Vielleicht ist uns durch unsere lange Friedenszeit wirkliche Not unvorstellbar geworden. Aber am Ende des Zweiten Weltkrieges ist der deutsche Alltag doch auch durch den Krieg, durch die Bombardements und durch die vielen Menschen, die ihre Heimat verloren, einfach ausgehebelt worden. Ich glaube, wir haben noch nicht verstanden, dass Kriege, die anderswo stattfinden, uns in ihren Auswirkungen irgendwann erreichen. Wir müssen begreifen, dass wir uns nicht immer aussuchen können, was wir gern hätten.
Jenny Erpenbeck liest am 29. September, 19 Uhr, im Literaturhaus Magdeburg aus ihrem Roman „Gehen, ging, gegangen“ (Knaus Verlag).