Städtebundtheater Wundervolle Poesie
„Eugen Onegin“ in Regie von Hinrich Horstkotte am Nordharzer Städtebundtheater muss man unbedingt gesehen haben.
Halberstadt l Peter Tschaikowskys „lyrische Szenen“ nach dem Versepos „Eugen Onegin“ des Nationaldichters Alexander Puschkin werden in der Regel nur an großen, leistungsstarken Opernhäusern gespielt. Das Städtebundtheater wagte sich an diesen Stoff (Dramaturgie Susanne Range). Dazu hatte es ein sängerisch und darstellerisch ganz groß überzeugendes Ensemble, ein instrumental feines Orchester unter Leitung von Musikdirektor Johannes Rieger sowie einen mit enormer Spielfreude überzeugenden Chor, einstudiert von Jan Rozehnal. Dazu kam mit Regisseur und Ausstatter Hinrich Horstkotte der wohl beste Künstlermensch seit langem.
Dabei geschieht fast nichts an äußerer Aktion. Das Mädchen Tatjana verliebt sich schwärmerisch in einen gestandenen Mann – Eugen Onegin. Sie hat ihn nur einen kurzen Nachmittag gesehen und schreibt ihm die ganze Nacht lang einen Liebesbrief. Und singt davon. Doch er spielt nur mit ihren Gefühlen und denen ihrer Schwester Olga. Am Ende ist Lenski, der Freund der Schwester, von Onegin im Duell erschossen. Der zeigt auch nach langem Umherirren in der Welt weder Vernunft noch Verstand und entbrennt zu der zur Frau gereiften Tatjana in vorgeblicher, vergeblicher Liebe.
Verpasste Gelegenheiten, vergeudete Lebenszeit. Diese jungen Menschen scheitern an ihrer Unreife, an Langeweile, an Überdruss, an Verantwortungslosigkeit. Dabei sind sie klug, lesen Bücher, schreiben. Sie verteilen ihre Zettel überall – wie heute die Generation Facebook. Doch sie finden keinen Adressaten. Sie sind unglücklich. Sie werden zu überflüssigen Menschen.
Horstkotte lässt den ersten und zweiten Akt fast ganz in Weiß, den dritten Akt in Schwarz spielen. Helles Bühnenlicht der Erkenntnis. Jedes Kostüm, jede Perücke ist kostbar und individuell gearbeitet, selbst für den Chor. Die Werkstätten müssen diesen Ausstatter sehr lieben. Ein „Unmöglich“ gab es da nicht.
Immer wieder spielen die russischen Birken mit – wie in den Landschaften der Peredwishniki, jenen russischen unakademischen Malern des Dorflebens und der Natur. Wie in Adrian Wokows „Duell zwischen Puschkin und d’Anthès“, wie in Ilja Repins düsterem Schneebild des Duells. Die Ikonographie Horstkottes zeigt im Bühnenbild sehr genaue Kenntnis von den Landhäusern und der Lebensweise des russischen Adels; vielfach ist es strukturiert durch klassizistische Fassaden, durch Gazerahmen, durch Säulen. Einfach schön und von großem ästhetischen Reiz.
Dass Horstkotte solch hervorragende Psychologisierung erreichte, liegt an genauer Charakteristik seiner Bühnenhelden aus Kenntnis der Musik. Aus der Partitur Tschaikowskys schöpft er ihre Seelenregungen. Die Amme Filipjewna (Steffi Gehrke) lässt er jeden Schritt tief gebückt gehen, an Tisch und Bänken findet sie Halt. Er gibt ihr und der Gutsbesitzerin Larina im Hosenanzug (Gerlind Schröder) zwei Schüsseln Äpfel zum Schälen zur Charakterisierung des Landlebens mit. Beide beklagen resignativ ihre gescheiterten Lebensentwürfe. Seit Generationen. Nichts Weltbewegendes passiert.
Oder Tatjana (Runette Botha). Fast zehn Minuten singt sie ihre lyrischen Liebesschwüre zu Onegin (Juha Koskela). Vergeblich. Erst am Ende wird er sein strenges schwarzes Kostüm aufreißen, das ihn wie ein Panzer umschloss. Zu spät. Oder ihre Schwester Olga (Regina Pätzer). Eine unbeschwert lebenslustige junge Frau. Gewogen und zu leicht befunden. Oder der unglückliche Lenski im Pierrot-Kostüm (Max An). Der Tenor läuft sängerisch und darstellerisch zu ergreifender Höchstform auf. Oder Fürst Gremien (Gis Nijkamp). Weise und abgeklärt singt er vom Glück der späten Liebe zu Tatjana.
In diese stille, sensible Handlung ließ Tschaikowsky vier Tänze einfließen (Choreografie: Heike Müller und Corinna Ehrig). Und ein Huldigungsliedchen des französischen Gesangsmeisters Triquet (Tobias Amadeus Schöner). Ein fast kabarettistisches Glanzstück! Fast überflüssig zu erwähnen, dass Horstkotte auch den Chor höchst sorgsam mit individueller Figurenzeichnung versah.
Fazit: Eine Sternstunde des Theaters, eine exzellente Ensembleleistung. Bravorufe und minutenlange Ovationen im Stehen.
Die nächsten Vorstellungen: 5. und 20. November, 17. Dezember in Quedlinburg; am 13. und 26. November sowie am 10. Dezember in Halberstadt.