Analyse Corona-Tote ohne typische Symptome - Was steckt dahinter?
Das Coronavirus breitet sich zunehmend in Altenheimen aus. Die Einrichtungen vermelden ungewöhnliche Verläufe der Erkrankung. Steckt mehr in dem Virus als bekannt?
Berlin (dpa) - In dem Altenheim in Wolfsburg ging alles ganz schnell: Keine typischen Corona-Symptome und ein deutlich verkürzter Sterbeprozess. So beschrieb die betreibende Diakonie den Ausbruch des Virus im Hanns-Lilje-Heim.
Mittlerweile sind dort über 20 Bewohner nach einer Infektion mit Covid-19 gestorben. Auch in anderen Altenheimen greift das Virus um sich. Es gibt mehrere Berichte von plötzlichem Atemstillstand. Ein Anwalt aus Wolfsburg hat kurz nach den ersten Todesfällen Anzeige gegen die Betreiber der Einrichtung wegen fahrlässiger Tötung gestellt. Behandlungsfehler als Grund für die schnellen Tode? Experten haben einen anderen Verdacht.
Guido Michels ist Chefarzt am Sankt-Antonius Hospital in Eschweiler und Mitglied der Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin. Er hat bereits eine Reihe älterer Corona-Patienten betreut. Dass die raschen Tode ein Zeichen für eine Fehlbehandlung sind, schließt er aus. Bei älteren Menschen seien die Verläufe häufig atypisch, weil die Menschen andere Erkrankungen mitbrächten. Das Immunsystem sei nicht mehr so leistungsfähig, ältere Menschen hätten höhere Infektionsraten und seien anfälliger für Infekte. Zudem verändere sich im Alter auch die Lunge, der Gasaustausch funktioniert oft nicht mehr so gut. All das mache die Menschen besonders anfällig, sagt Michels.
Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, sieht Alter und Vorerkrankungen als eine wichtige Erklärung für schwere Verläufe. Allerdings werde in der aktuellen Corona-Pandemie gelegentlich auch berichtet, dass Patienten plötzlich einen Atemstillstand erlitten, ohne dass sie vorher gravierende Lungensymptome hatten. Das betreffe nicht nur ältere Patienten. Wie lassen sich diese ungewöhnlichen Verläufe erklären?
Ein Blick auf die Erfahrungen mit den ebenfalls durch Coronaviren ausgelösten Erkrankungen Mers und Sars kann hier möglicherweise Hinweise liefern. "Von früheren Coronavirus-Infektionen weiß man, dass der Hirnstamm von Viren mit einbezogen werden kann." Dort sitzt auch die Steuerung für das Herz-Kreislauf-System und die Atemwege. Eine durch Viren ausgelöste Entzündung im Hirnstamm könnte laut Berlit zum Beispiel einen Atemstillstand auslösen. Für das neuartige Coronavirus sei das aber noch nicht nachgewiesen.
Erste Studien liefern jedoch Indizien für diese These, etwa die von chinesischen Forschern. "Dass die Infektion das zentrale Nervensystem in Mitleidenschaft zieht, steht für Huijuan Jin von der Huazhong-Universität in Wuhan jedoch außer Zweifel", schreibt das Deutsche Ärzteblatt.
Bei Sars und Mers trete der Erreger über die Riechnerven ein, über welche die Nasenhöhle mit dem Gehirn verbunden ist, schreibt das Deutsche Ärzteblatt. Auch bei europäischen Covid-19-Patienten werden in bis zu 80 Prozent Störungen von Geruchs- und Geschmackssinn beschrieben. "Ein neurologisches Symptom", sagt Berlit, "als Indiz dafür, dass das Nervensystem mit einbezogen ist."
Infektiologe Bernd Salzberger hat bisher rund 50 Corona-Patienten am Universitätsklinikum Regensburg betreut. Bei seinen Patienten habe er den plötzlichen Atemstillstand noch nicht beobachtet, sagte Salzberger. Der Verlust von Geruchs-und Geschmackssinn lasse aber auf eine Gehirnbeteiligung schließen. "Es gibt bisher aber nur ganz wenige Untersuchungen am Gehirn von Corona-Patienten. Da tappen wir noch im Dunkeln."
"Wir wissen, dass ein möglicher Befall des Nervensystems durch Corona-Viren diskutiert wird", sagt Frank Heimann, Vorsitzender des Bundesverbands der Pneumologen, Schlaf- und Beatmungsmediziner. Ein plötzlicher Atemstillstand lasse sich aber auch durch andere Komplikationen erklären. So sei etwa auch eine Lungenembolie denkbar oder plötzliche Herzrhythmusstörungen bedingt durch eine virale Herzmuskelentzündung. In beiden Fällen kündige sich das Lungenversagen vorher nicht an. Bei bakteriellen oder virusbedingten Erkrankungen der Lunge würden die Patienten vor einem Lungenversagen klinisch auffällig, weil sie etwa unruhig oder schläfrig würden.
Aus neurologischer Sicht sei es wichtig, abzuklären, wie viele der schweren Krankheitsverläufe durch die Mitbeteiligung des zentralen Nervensystems ausgelöst werden, sagt Berlit.
Derzeit forschen Experten auf der ganzen Welt zu dem Virus. Berlit hofft, dass schon Ende April eine Datenlage vorliegt, mit der der neue Erreger und seine Aktivitäten im Nervensystem besser eingeschätzt werden können.