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Stress und Depression Diese Magdeburgerin heilt mit Kuscheln – warum Menschen dafür sogar ein Therapie buchen

Kuscheln ist mehr als Zärtlichkeit: Es kann Stress senken, Ängste lindern und Depressionen abschwächen. In Magdeburg arbeitet eine professionelle Kuscheltherapeutin mit klaren Regeln – und ihre Klienten berichten von erstaunlichen Veränderungen.

Von Franziska Stawitz 08.12.2025, 17:05
Marie-Luise Weinreich aus Magdeburg kuschelt mit einer Klientin: Der Stress lässt nach, der Kopf geht aus und das Herz an – Kuscheln wirkt sich positiv auf die körperliche und psychische Gesundheit aus. „Schmelzendes Herz“ heißt diese Kuschelposition.
Marie-Luise Weinreich aus Magdeburg kuschelt mit einer Klientin: Der Stress lässt nach, der Kopf geht aus und das Herz an – Kuscheln wirkt sich positiv auf die körperliche und psychische Gesundheit aus. „Schmelzendes Herz“ heißt diese Kuschelposition. (Foto: Franziska Stawitz)

Magdeburg. Die kleinen Härchen im Nacken stellen sich auf und ein wohliger Schauer krabbelt uns den Rücken rauf und wieder runter. Der Stress lässt nach, der Kopf geht aus und das Herz an, wenn wir kuscheln. Wenn auch nicht bei allen, so doch bei vielen Menschen.

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Kuscheln fühlt sich ein bisschen so an, wie unter Omas Daunendecke zu kriechen, die frisch bezogen so gut duftet und sich eng an uns schmiegt. Kuscheln ist Geborgenheit. Kuscheln ist gesund, manche würden sogar sagen, es hat den Status eines Lebensmittels. Wir brauchen es zum Leben.

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Berührungen geben uns vom Tag der Geburt an das Gefühl von Nähe und Vertrauen, Zugehörigkeit und „Angenommen sein“. Marie-Luise Weinreich aus Magdeburg ist Kuscheltherapeutin.

Kuscheln als Therapie: Was im „Kuschelzimmer“ wirklich passiert

Einmal in der Woche kuschelt sie mit Klienten. Dabei gibt es ganz klare Regeln: Die Klamotten bleiben an, Berührungen in der Intimzone sind tabu. Kuscheln ist nicht sexuell intendiert. Hier geht es um Nähe, um Vertrauen und auch um Sicherheit, die Marie-Luise ihren Klienten schenkt.

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Ihr Kuschelzimmer: gemütlich. Ein alter Kachelofen in der Ecke, hohe Wände, warme Farben. Ein Futonbett und eine Matratze laden zum Lümmeln ein. Marie-Luise strahlt Ruhe, Liebe und Frieden aus. Schnell wird klar, diese zierliche Frau mit den halblangen blonden Haaren, ist mit sich im Reinen.

Vom Zufall zur Berufung: So wurde sie Kuscheltherapeutin

Zum Kuscheln ist die gelernte Floristin vor anderthalb Jahren auf einer Fete gekommen: „Da habe ich mich zwischen zwei Kuscheltrainern wiedergefunden und mich gefühlt wie ein Fisch im Wasser. Das ist es, habe ich gedacht und konnte vor Freude nicht mehr schlafen.“

Zu Marie-Luise Weinreich kommen Menschen, die wenig Berührung in ihrem Leben erfahren haben, gerade und auch in der Kindheit.
Zu Marie-Luise Weinreich kommen Menschen, die wenig Berührung in ihrem Leben erfahren haben, gerade und auch in der Kindheit.
(Foto: Franziska Stawitz)

Zu Marie-Luise Weinreich kommen Menschen, die wenig Berührung in ihrem Leben erfahren haben, gerade und auch in der Kindheit: „Da fehlt viel dieses Absichtslose, Bedingungslose. Es geht ganz viel ums Halten, Streicheln und immer im Konsens sein, was braucht derjenige gerade.“

Wie viel Nähe braucht ein Mensch wirklich?

Wie viel Körpernähe und Berührungen wir Menschen benötigen, ist individuell verschieden, weiß Professor Martin Grunwald, Diplom-Psychologe und Leiter des Haptik-Forschungslabors der Universität Leipzig: „Der eine kommt mit einer Umarmung aus, der andere braucht fünf Umarmungen. Gerade unter Corona haben wir gesehen, dass es Menschen gab, die wirklich auf dem Zahnfleisch gekrochen sind, die das nicht ertragen haben, berührungslos unterwegs zu sein, und andere saßen glücklich und zufrieden mit der Pizza auf der Couch.“

Den Weg zu Marie-Luise Weinreich finden oft Menschen, denen es schwerfällt, Nähe zuzulassen. „Mit der Zeit merken die jedoch, dass ihnen etwas Gravierendes fehlt und sie sich in einem sehr sicheren Raum vorsichtig rantasten.“

„Ich konnte Nähe kaum ertragen“ – Christinas Weg zurück zur Berührung

So wie Christina, die eigentlich anders heißt. Sie ist 44 Jahre alt und kommt seit April zur Kuscheltherapie. Im Jahr 2022 erkrankte sie an einer Depression, begleitet von Ängsten. Es folgte ein Klinikaufenthalt und eine längere ambulante Therapie.

„Ich konnte und wollte schon als Kind und Jugendliche nur schlecht Nähe zulassen. Ich hatte ein sehr liebevolles Elternhaus, war aber ansonsten sehr ängstlich und zurückhaltend. Ich war ein sogenanntes Verschickungskind. Mit zwei Jahren war ich für acht Wochen allein zur Kur und mit vier Jahren noch einmal für sechs Wochen“, erzählt sie.

Zusätzlich habe sie als junge Frau Gewalt erfahren. Die vergangenen Jahre habe Christina genutzt, um herauszufinden, welche Bedürfnisse sie habe – dazu gehöre definitiv auch der Wunsch nach Nähe. Berühren, streicheln, kuscheln und schmusen.

All das löst eine ganze Menge aus, weiß Professor Grunwald: „Bei einvernehmlichen Körperinteraktionen, kommt es auf beiden Seiten sowohl körperlich als auch neuronal, zu umfassenden Entspannungsreaktionen, sofern mehrere Bedingungen erfüllt sind. Die beiden Personen kennen sich, die Beziehung ist gut und die Situation, Zeit und Berührungsstärke sind angemessen“, so der Experte.

Was im Körper passiert, wenn wir kuscheln

Konkret heiße das: der Blutdruck sinke, der Cortisolspiegel falle ab, die Herzfrequenz werde langsamer, und die Muskulatur entspanne sich. „Auf neuronaler Ebene lässt sich eine verstärkte Aktivierung der Alpha-Aktivität feststellen, es kommt zur Ausschüttung von Oxytocin, Angstemotionen werden nach unten reguliert“, sagt der Haptikforscher.

Das Hormon Oxytocin, umgangssprachlich auch als Kuschel- und Bindungshormon bekannt, festigt soziale Beziehungen und fördert die Stressbewältigung, weil es als Gegenspieler des Cortisols, eines unserer Stresshormone, wirkt.

Dass Kuscheln umfangreiche körperliche und psychische Auswirkungen hat, stellt Marie-Luise Weinreich immer wieder aufs Neue fest, wenn sie vergleicht, wie sie ihre Klienten zum Beginn der Kuschelsession erlebt und wie sie anschließend aus dem Raum gehen: „Ich würde es so gern mal fotografieren, weil es echt erstaunlich ist“, sagt sie.

„Die Menschen kommen rein, so wie sie eben unterwegs sind plus Aufregung – und wenn sie rausgehen, sieht es so aus, als ob sich hinter der Stirn was geöffnet hat. Sie haben ein ganz entspanntes Gesicht, die Körperhaltung ist eine andere und die Stimme hat sich gesenkt.“

Auch Christina stellt nach jeder Session fest, es tut sich etwas, und das ganz im positiven Sinne: „Ich genieße das mittlerweile, die Chemie stimmt auch zwischen uns, und es fällt mir immer leichter, mich fallen zu lassen. Ich gehe mit einem leichten Gefühl raus. Angenommen zu sein und auch auf eine gewisse Art geliebt zu werden“, sagt Christina. Der nächste große Schritt für sie: „Bald werde ich mit einem männlichen Kuscheltherapeuten kuscheln.“

Kuscheln auf Rezept? Warum Ärzte bald Berührungen verschreiben könnten

Marie-Luise Weinreich geht bei diesen Worten das Herz auf: „Ich finde diese Entwicklung erstaunlich. Darum geht es ja letztendlich auch. Zuerst herauszufinden, welche Berührungen mir guttun und das dann auch entsprechend zu kommunizieren.“

Das gelte auch und gerade in einer Partnerschaft. Jedes Paar habe gewisse Berührungsmuster, die sich am Anfang der Beziehung herausstellen – oft seien die Bedürfnisse wiederum aber ganz andere.

Warum dieser Trend wächst – und was dahinter steckt

„Wenn ich anderen Menschen helfen kann, über das Kuscheln zu sich zu finden, dann macht mich das sehr glücklich“, so die 58-Jährige. Professor Grunwald geht sogar noch einen Schritt weiter: „Durch verschreibungspflichtige Körperinteraktionen könnte man in vielen Bereichen intervenieren, etwa bei Adipositas, Alkohol- oder auch Drogenmissbrauch“, sagt der Fachmann.

Auch bei Angststörungen oder Depressionen könne das Kuscheln helfen. „Halt mich nur ein bisschen, bis ich schlafen kann“, hat schon Herbert Grönemeyer gesungen. Denn Berührungen schaffen Verbundenheit und die brauchen wir mehr denn je in dieser Welt, in der wir leben.