Vermeiden, verlegen, verklären Postphobie? Warum man Briefe immer öffnen sollte
Schreiben von Ämtern, Rechnungen, Mahnungen – viele Briefe rufen Ängste hervor. Sie deshalb ungeöffnet zu stapeln oder gleich wegzuwerfen, ist aber keine gute Idee. Wie Sie wieder ins Tun kommen.

Fritzlar - Mal ist der Ehepartner gestorben, der sich immer um die Post gekümmert hat. Mal ein junger Mensch von zu Hause ausgezogen, der die Online-Rechnungen vom Stromversorger einfach ignoriert. Und mal steckt auch eine depressive Erkrankung dahinter.
„Es gibt sehr, sehr viele Menschen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten, die aus ganz unterschiedlichen Gründen heraus ein Problem damit haben, ihre Post zu öffnen“, sagt Manuela Wiegand von der Schuldner- und Insolvenzberatungsstelle Fritzlar der Verbraucherzentrale Hessen. Wie sich so ein umgangssprachlich als Postphobie bezeichnetes Verhalten entwickelt, welche Konsequenzen Mahnungen und Drohungen von Inkasso-Firmen mit sich bringen und wie man Betroffenen helfen kann: ein Leitfaden.
Die psychologische Erklärung
„Es handelt sich dabei nicht um eine Krankheit, sondern um ein klassisches Vermeidungsverhalten“, sagt Psychologin Claudia Kurz aus Dillenburg. Weil die Briefe schon danach aussehen, als könnten sie kompliziert sein, Geldforderungen oder andere unangenehme Dinge mit sich bringen, öffnet man sie lieber nicht.
„Vielleicht habe ich in der Vergangenheit schon schlechte Erfahrungen mit solcher Post gemacht, deshalb macht sie mir jetzt Angst und ich vermeide den Inhalt“, sagt Claudia Kurz. Oder man fühle sich aktuell einfach nicht in der Lage dazu, noch mehr unangenehme oder zeitaufwendige Aufgaben anzunehmen, weil das eigene Leben ohnehin schon herausfordernd genug ist – sei es aufgrund einer Trennung, einer Erkrankung, einer Geburt oder eines Umzugs. Also schiebt man die Konfrontation mit dem Inhalt eines Briefes erst einmal von sich. Irgendwann kann die angesammelte Menge dann aber so groß sein, dass man sie kaum noch bewältigen kann.
„In unsere Beratungen kommen Menschen, die haben ganze Plastiktüten voller ungeöffneter Briefe dabei“, sagt Manuela Wiegand. Andere brächten über Wochen hinweg immer wieder Umschläge mit, die sie irgendwo zu Hause finden. Wieder andere hätten die Post entsorgt, beim Umzug keinen Nachsendeantrag angegeben oder den Nachnamen des Partners angenommen - nur um den Briefen zu entfliehen. „Irgendwann holen einen Mahnungen oder Forderungen von Inkasso-Firmen aber natürlich trotzdem ein“, sagt Manuela Wiegand.
Sie weist darauf hin, dass das Problem nicht nur mit echten Briefen existiert, sondern sich auch beim digitalen Briefkasten fortsetzt. „Hier erleben wir gerade bei jungen Menschen, dass ihnen das Wissen fehlt, wie man elektronische Post richtig ablegt oder eine Excel-Tabelle liest“, sagt Manuela Wiegand. Häufig würden deshalb auch E-Mails einfach ignoriert oder gelöscht.
Die Konsequenzen
Es gibt keine gesetzliche Verpflichtung, wie oft man den eigenen Briefkasten leeren muss. Viele amtliche Schreiben gelten mit dem Posteinwurf aber als zugestellt. Oder aber spätestens vier Tage nachdem sie verschickt wurden - egal ob und wann man sie öffnet oder liest.
Erhält man beispielsweise eine Kündigung vom Arbeitgeber oder vom Vermieter, tritt diese auch dann in Kraft, wenn man den entsprechenden Brief nicht öffnet. Zugleich vergibt man dadurch die Möglichkeit, sich innerhalb der geltenden Fristen zur Wehr zu setzen, sollte die Kündigung nicht rechtmäßig sein.
Viele amtliche Schreiben enthalten zudem Fristen, die für eine Antwort oder einen Widerspruch eingehalten werden müssen. „Wenn ich diese unverschuldet versäume, kann ich bei der Behörde einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stellen und hoffen, dass die Frist verlängert wird“, sagt Manuela Wiegand. Wer nicht reagiert, muss mit rechtlichen oder finanziellen Konsequenzen rechnen.
Ähnlich sieht es aus, wenn man eine Rechnung nicht bezahlt. Üblicherweise erhält man dann eine oder mehrere Mahnungen. Ab der zweiten Mahnung dürfen Händler Mahnkosten und Zinsgebühren berechnen. Als angemessen gelten 2,50 Euro pro Brief. Wird darauf nicht reagiert, kann ein Inkassounternehmen oder ein Rechtsanwalt beauftragt werden, wodurch weitere Kosten entstehen. Erst wenn auch darauf keine Reaktion erfolgt, kann ein Mahnbescheid beim Gericht beantragt werden und hieraus ein Vollstreckungstitel ergehen. Damit kann der Gerichtsvollzieher Eigentum der verschuldeten Person pfänden.
„Viele Inkassofirmen drohen in ihren Schreiben gleich mit Haft und anderen Dingen. Nur weil das da drinsteht, ist es aber nicht rechtlich korrekt“, sagt Manuela Wiegand. „Oft geht es schlicht darum, Angst zu erzeugen.“ Weiterhelfen können hier Schuldnerberatungen, wie sie etwa die Verbraucherzentralen anbieten.
Die Suche nach Hilfe
„Es ist ein sehr schambehaftetes Thema, bei dem man auf jeden Fall Fingerspitzengefühl braucht und nicht mit Vorwürfen arbeiten darf, wenn man helfen möchte“, sagt Anke Florin, die als Sozialarbeiterin in der Beratungsstelle Chan!Ge, einem Projekt zur Armutsfolgenbekämpfung und Chancengleichheit in Bergkamen, arbeitet.
Zu ihr kann man seine ungeöffnete Post einfach mitbringen, sie macht aber auch Hausbesuche und öffnet mit Betroffenen gemeinsam den Briefkasten. Ähnliche Unterstützung kann man sich bei den Beratungsstellen von Wohlfahrtsverbänden suchen oder auch in den Schuldnerberatungen der Verbraucherzentralen.
„Es hilft auf jeden Fall, sehr niederschwellig anzufangen“, sagt Manuela Wiegand. Also etwa erst einmal alle Briefe an einem Platz zu sammeln und nach Absender zu sortieren. Erst in einem weiteren Schritt geht es dann ans Öffnen. Hier empfiehlt Claudia Kurz, den Brief nicht sofort aus dem Umschlag zu holen, sondern etwa zehn Minuten damit zu warten.
Der Grund: „Große Angst kann unser Körper nur kurz aufrechterhalten, in dieser Zeit kann das Gehirn aber auch nicht klar denken.“ Eine tiefe Atmung während dieser angsterfüllten zehn Minuten (vier Sekunden einatmen, sieben Sekunden Luft anhalten, acht Sekunden ausatmen) helfe ebenfalls dabei, sich zu beruhigen. Dann erst wird der Brief aus dem Umschlag geholt – und vielleicht erst einmal ungelesen abgeheftet.
„Es ist ja der Inhalt, der die Betroffenen am stärksten triggert, weil er meist nicht freundlich ist und oft sehr kompliziert“, sagt Wiegand. Deshalb könne es auch helfen, wenn jemand aus der Familie oder aus dem Freundeskreis einfach mit dabei sitzt. „Vielleicht hat jemand mit einem ähnlichen Schreiben ja schon Erfahrungen gesammelt oder kennt sich mit dem Thema besser aus als man selbst“, sagt die Verbraucherschützerin.
Gerade wenn es um das Thema Schulden geht, könne man aber auch professionelle Hilfe aufzeigen. „Wichtig ist, sich hier eine seriöse Beratung zu suchen“, sagt Manuela Wiegand. Wovon sie in diesem Zusammenhang abrät, sind Firmen, die übers Internet Dienste anbieten, bei denen man einfach seine gesamte ungeöffnete Post einschicken könne und dann eine detaillierte Schuldenübersicht sowie Handlungsempfehlungen erhalte. „So vermeidet man den unangenehmen Umgang mit der Post ja wieder. Um etwas gegen die Postphobie zu tun, ist das wenig hilfreich.“