Familie Wenn das Trauma der Vorfahren die Seele belastet
Manche Menschen leiden an ihnen unerklärlichen Albträumen und Ängsten, und manchmal liegt deren Ursache schon lange vor ihrer Geburt. Experten erklären, warum eine Spurensuche sich lohnt.

Bad Dürrheim/München - Ein junger Mann erbt viel Geld – doch statt Freude empfindet er ein schlechtes Gewissen. Er versteht nicht, warum ihn das Erbe mit Schuldgefühlen belastet. Erst in der Psychotherapie entdeckt er: Der Reichtum seiner Familie stammt aus Unrecht während des NS-Regimes. „Der Sohn wusste davon nichts, doch er hat dieses Familiengeheimnis trotzdem reinszeniert“, also unbewusst wiederholt und weitergelebt, berichtet die Psychotherapeutin Michaela Huber.
Man spricht dann von transgenerationalen Traumata als seelischen Wunden, die über Generationen weitergegeben werden. Nachfolgende Generationen übernehmen dabei die psychischen Belastungen ihrer Vorfahren - oft ohne Kenntnis des Ursprungs, weil darüber nie gesprochen wurde.
Betroffene haben oft unerklärliche Ängste und Aggressionen, Gefühle von Selbstentfremdung, Neigung zu Zwangshandlungen, Verunsicherung über die eigene Identität, Angststörungen, Depressionen oder eine erhöhte Stressanfälligkeit. Solche Symptome sind typisch für transgenerationale Traumata.
Beispiel: „Viele Menschen haben das Gefühl, dass sie nirgendwo zu Hause sind, auch nicht an dem Ort, an dem sie schon lange leben“, so Traumaexpertin Huber. Blicke man zurück auf deren Familiengeschichte, treffe man in diesen Fällen oft auf Flucht und Vertreibung in früheren Generationen. Oder andere Menschen hätten das Gefühl, sie würden nicht alt, könnten niemanden vertrauen oder würden verfolgt - auch hier könne der Ursprung in einem Trauma der Eltern oder Großeltern liegen.
Wichtig zu wissen: Traumata werden nicht zwangsläufig übertragen. Nachkommen von traumatisierten Menschen sind jedoch nachweislich anfälliger für psychische Probleme und Erkrankungen.
Wie und warum?
Wie kann es überhaupt geschehen, dass man unter etwas leidet, das andere erlebt haben? „Es ist ein komplexer Prozess“, sagt Psychotherapeutin Huber, denn es gibt viele Pfade, auf denen unverarbeitete Traumata weitergegeben werden - biologische, psychologische und soziale.
„Wir tragen sehr viel von unseren binären Bindungspersonen in uns. Das ist normal, kann aber bei Traumata zu Problemen führen“, erklärt der Psychotherapeut Harald Schickedanz aus Bad Dürrheim.
Können etwa Eltern ihre psychischen Belastungen nicht verarbeiten und verdrängen sie ungewollte Gefühle wie Wut, Trauer und Angst, zeigt sich dies zwangsläufig im Umgang mit ihren Kindern - sie sind etwa emotional distanziert, beschützen übermäßig oder sind unverhältnismäßig ängstlich.
Auch die Atmosphäre in dem Elternhaus spielt eine Rolle, ebenso die Mimik oder die Körperhaltung der Eltern bei bestimmten Themen, so Schickedanz: „Sensible Kinder nehmen die Spannungen in sich auf.“ Dies alles hat Auswirkungen auf das Selbstbild und die Gefühlswelt der Nachkommen.
Dass diese Weitergabe reale Folgen hat, betont auch die Kölner Fachärztin für Psychiatrie sowie Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Katharina Drexler in ihrem Buch „Ererbte Wunden heilen“: „Ererbte Wunden bedingen heutiges Leid. Sie können Symptome bis hin zum Vollbild einer Posttraumatischen Belastungsstörung verursachen.“
Wer den Verdacht hat, er könne unter einem solchen Trauma leiden, sollte sich auf Spurensuche in die Familiengeschichte begeben, so Schickedanz: Wie haben die Eltern, Großeltern, vielleicht auch die Urgroßeltern gelebt? Was hat sich atmosphärisch vererbt? Gibt es typische Familienthemen?
Erkennen, um zu verarbeiten
Allerdings ist das anspruchsvoll, so Schickedanz, je nachdem, ob und was man weiß. Daher kann eine Therapie nicht nur hilfreich, sondern auch nötig sein, um ein Trauma zu erkennen und zu bearbeiten. Etwa indem der Therapeut mit gezielten Fragen bei der Suche nach dem Ursprungstrauma unterstützt, erklärt Schickedanz: Ist zum Beispiel die Großmutter früh gestorben, hat die Mutter in dem entsprechenden Alter große Angst gehabt und die Patientin nun auch? „Das Erkennen der Ursache ist dann eine große Erleichterung.“
Grundsätzlich gibt es für das Feld der transgenerationalen Traumata, also seelischer Wunden, die über Generationen weitergegeben werden, etwa nach Krieg, Flucht, Missbrauch oder familiären Gewalterfahrungen, verschiedene Therapieansätze, mit denen das Trauma durchgearbeitet, eingeordnet und schließlich verarbeitet und innerlich einsortiert wird.
Etwa die Traumatherapie nach psychotraumatologischem Ansatz mit dem Ziel, die oft unbewusst übernommene ursprüngliche Traumatisierung zu verarbeiten und Selbstregulation aufzubauen. Oder Tiefenpsychologisch fundierte beziehungsweise analytische Psychotherapie, in der unbewusste Übertragungen verstanden und bearbeitet werden sollen.
Auch andere sowie integrative Methoden können hilfreich sein; welche Therapie „die richtige“ ist, hängt unter anderem ab von Art und Schwere der Symptome (wie Depressionen, Bindungsprobleme, Ängste), dem Grad der Bewusstheit des eigenen oder „fremden“ Leides - und natürlich auch der Passung zu Therapeutin oder Therapeut ab.
Die Behandlung weitergegebener Traumata stelle keinen Luxus dar, so Drexler. Sie kann Harald Schickedanz zufolge sogar nachhaltig wirken: „Eine Traumafolgestörung ist immer ein Feststecken von Gefühlen, man endet stets im Schrecken“ - doch verarbeite eine Generation diesen Schrecken, habe er ein Ende, und der Teufelskreis sei durchbrochen.