Körperlose Wesen Jeder Zweite glaubt an sie: Auf den Spuren der Engel
Was hat es nur mit den Engeln auf sich? Sie verbinden das Christentum mit dem Islam. Sie besitzen Flügel seit mindestens 1500 Jahren. Sie wirken als Therapeuten. Und das alles, obwohl sie unsichtbar sind.
Berlin (dpa) - Derzeit sind sie überall. Flügel schlagend, Posaune spielend oder im Chor von dem bevorstehenden freudigen Ereignis kündend - die Engel. Ihre große Zeit ist kurz vor Weihnachten. Doch ganzjährig gilt: Etwa jeder Zweite in Deutschland glaubt an Schutzengel.
Das ergab 2016 eine repräsentative YouGov-Umfrage im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur. Es gibt Engelbücher, Engelkongresse, Engelseminare und sogar Engelmuseen: in Engelskirchen in Nordrhein-Westfalen und in Bretten in Baden-Württemberg.
Esoterik-Autoren wissen oft ganz genau, wie man sich Engel vorstellen muss. Biblische Texte sind da viel zurückhaltender. Dort erscheinen Engel zum Beispiel im Traum. Glaubt die Kirche heute noch daran? Die Deutsche Bischofskonferenz verweist auf den Katechismus, das für Katholiken verbindliche Handbuch. Dort heißt es in "Absatz 5 - Himmel und Erde": "Dass es geistige, körperlose Wesen gibt, die (...) gewöhnlich 'Engel' genannt werden, ist eine Glaubenswahrheit. Als rein geistige Geschöpfe haben sie Verstand und Willen; sie sind personale und unsterbliche Wesen."
Engel sind aber auch in anderen Religionen verankert, besonders prominent im Islam. "Die Engel sind fester Bestandteil des Glaubens der Muslime", erläutert Aiman A. Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime. "Sie sind Wesen aus Licht. Sie spielen eine Rolle von der Geburt bis zum Tod und darüber hinaus." Engel verbinden die Religionen - und damit die Welt.
Wenn es um ihr Aussehen geht, muss man die Kunst zurate ziehen. In der abendländischen Kunstgeschichte wurden Engel zunächst als junge Männer dargestellt - mit buchstäblich engelsgleichen Zügen und immer frisch rasiert. Im fünften Jahrhundert bekamen sie Flügel. "Das scheint daher zu kommen, dass diese Wesen den biblischen Beschreibungen zufolge die Fähigkeit haben, plötzlich irgendwo aufzutauchen und ebenso schnell wieder zu verschwinden", erklärt Andreas Henning von den Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden.
Im Kern geht die Anziehungskraft der Engel wohl darauf zurück, dass sie versprechen: Du bist nicht allein! "Von guten Mächten wunderbar geborgen", wie es der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer in seinem Gedicht ausdrückt - wer wäre das nicht gern? Jeder Unfalltod, jeder Kinderkrebspatient scheint allerdings dagegen zu sprechen.
Wobei: Bonhoeffer schrieb seine berühmten Zeilen als Widerstandskämpfer in Gestapo-Haft - mit dem sicheren Tod vor Augen. Der Benediktinerpater und Buchautor Anselm Grün aus der Abtei Münsterschwarzach in Bayern betont, dass der Schutzengel nach christlichem Verständnis keineswegs vor allem Leid bewahrt. "Das wäre naiv. Der Engel schützt mich nicht vor jedem Unfall und jeder Krankheit. Er schützt meinen inneren Personenkern, der auch durch den Tod nicht zerstört werden kann. Es ist das, was mich als Menschen unverwechselbar macht."
Nach Einschätzung des Theologen und Psychoanalytikers Eugen Drewermann hat der Glaube an Schutzengel eine therapeutische Funktion. Gott selbst sei den meisten Menschen durch die auf Verbote und Strafe ausgerichtete Lehre der Kirche weit entrückt. Die dadurch entstandene Lücke werde von den Engeln gefüllt. "Was man mit ihnen verbindet, ist genau das, was man aus dem Gottesbild entfernt hat", sagt der Autor kirchenkritischer Bücher wie "Kleriker" der Deutschen Presse-Agentur. "Sie verurteilen nicht, sie behüten und beschützen, sie bewahren vor Gefahren, sie hüllen ihre Flügel um den Traurigen und Vereinsamten."
Uwe Wolff (63) ist Kulturwissenschaftler, Schriftsteller, Theologe - und seit Jahrzehnten "Engelforscher". Es begann damit, dass er als vierjähriger Junge in der Nähe eines Hochspannungsmasts spielte. "In der Höhe kletterten Männer und führten Reparaturarbeiten durch. Plötzlich fiel eines der Kabel hinab. Alles geschah im gleichen Augenblick: Die Luft vor mir vibrierte, alles war voll Elektrizität, doch eine andere Energie ergriff mich. Ich wurde blitzschnell von einer großen Kraft zur Seite gezogen. Als ich mich umdrehte, war niemand zu sehen."
Im Französischen gibt es die Wendung "un ange passe", ein Engel fliegt vorbei. Damit ist der Moment gemeint, in dem ein Gespräch plötzlich erstirbt und alles still ist. Man meint fast den Windhauch des vorbeigehenden Engels zu spüren. Etwas Ähnliches beschreibt der Abba-Song "Like an Angel Passing Through My Room".
Wolff, der im ländlichen Bad Salzdetfurth in Niedersachsen lebt, erzählt: "Wir waren eben noch mit dem Hund im Wald. Und da flogen Gänse über die Baumwipfel und waren einen Moment orientierungslos. Dann fanden sie wieder zusammen zu einer gemeinsamen Formation. Wir waren ganz still. Da kann man natürlich sagen: "Das ist ja überhaupt nichts Besonderes!" Aber für mich ist das die Welt der Engel."