Dünkirchen in Nordfrankreich Wandern im Meer: Küstenwandern für Abgebrühte
„Longe-Côte“ ist ein schräger Wasser- und Ausdauersport, der trendet. Auf Brusthöhe geht's dabei entlang der Küste durch die See. Selbstversuch in Dünkirchen, wo der Heidenspaß erfunden wurde.

Dünkirchen - Es braucht vollen Körpereinsatz. Der Wind bläst von vorn. Wellen schlagen ins Gesicht, bringen mich aus der Balance. Ein Kampf gegen die Elemente – und sich selbst. Ich pruste, finde in der Gruppe zurück in die imaginäre Spur über harten Sand am Grund, etwa fünfzig Meter vom Ufer entfernt.
Die Brusthöhe gilt als Idealposition, um beim „Longe-Côte“ voranzukommen, einem trendigen Wasser- und Ausdauersport, der immer mehr Anhänger findet. Ich rudere mit den Armen, schaufele das Nass nach hinten. Schritt für Schritt kämpfe ich mich vorwärts. Jede Bewegung im Wasser kostet ein Vielfaches mehr an Energie als an Land.
Es zieht im Rücken, im Gesäß, in den Oberschenkeln. Plötzlich sind Muskeln am Zug, von deren Existenz ich bislang nichts wusste. Nur beiläufig nehme ich die Möwen am Himmel wahr, die historischen Villen und bunten Strandhäuschen in der Ferne, die Fabrikschlote und Verladekräne des Handelshafens.
Eineinhalb Stunden später stehe ich ausgelaugt, aber glücklich und regelrecht vitalisiert am Strand. Die Feuertaufe in der 14 Grad frischen Nordsee vor Dünkirchen ist bestanden.
„Longer la côte“ - die Küste entlanggehen
Ohne Neoprenanzug und Wasserschuhe geht nichts. Bei geführten Touren bringt Thomas Wallyn das Outfit für seine Teilnehmer mit. Umziehen muss man sich gewöhnlich auf einem Parkplatz hinter der Promenade. Wallyn hat keinen festen Stützpunkt, ist im Hauptjob Sportpädagoge. Der 56-Jährige gilt als Urheber und Namensschöpfer des Longe-Côte, was auf Deutsch nur eine vage Übersetzung hat. Es leitet sich von „longer la côte“ ab, „die Küste entlanggehen“, erklärt er.
Vor etwa zwei Jahrzehnten, als Wallyn das Longe-Côte erfand, war er professioneller Rudertrainer und auf der Suche nach einer weiteren Möglichkeit, den ganzen Körper zu fordern. Zunächst wanderte er weit draußen mit einem Kajakpaddel durchs Wasser. Wer ihn vor der Küste Dünkirchens sah, rieb sich verwundert die Augen und glaubte an eine Erscheinung. „Es war eine neue Technik“, schaut Wallyn zurück. Fortan feilte er an der Herangehensweise, verzichtete auf Hilfsmittel.
Bei Trockenübungen an Land demonstriert er im Rahmen seiner Touren, wie man sich beim Meerwasserwandern am besten fortbewegt: „Immer mit einem Fuß auf dem Sand, dann gleitet man regelrecht durchs Meer.“ Longe-Côte stimuliert den Blutkreislauf, ist eine gute Atemübung und schont die Gelenke, so beschreibt es Wallyn. Tatsächlich: Von meiner Sprunggelenksverletzung spüre ich unterwegs nichts.
Persönlich praktiziert er Wallyn Longe-Côte fünfmal pro Woche, auch im Winter oder bei Dunkelheit mit Stirnlampe, und fühlt sich danach wie neugeboren. Das Meer sei niemals dasselbe. Ist er mit der Gruppe unterwegs, springt sein Funke des Enthusiasmus auf die Teilnehmer über. Er korrigiert die Körperhaltungen, spornt an. Dass ein Anfänger wie ich reichlich Wasser schluckt, das vor der Hafenstadt Dünkirchen nicht das reinste ist, gehört zum Erlebnis.
Tempo: zwei km/h
Teil zwei des Selbstversuchs. Anderntags bin ich mit der Vereinigung „Opale Longe Côte“ auf Achse. Marcel Samyn, Vorstandsmitglied und fitter Rentner mit 67, führt unser Grüppchen. Für ihn ist Longe-Côte der Bestandteil eines gesunden Lebenswandels. „Ich brauche nie Medikamente“, sagt er. Um den Hals trägt er eine Trillerpfeife und ein wasserdicht verpacktes Handy.
„Ihr müsst hinter die Brandung kommen“, sagt er. Dort beginnt der neue Kraftakt. Samyn bläut den Teilnehmern ein, auf den Fußballen voranzutänzeln, die Arme leicht angewinkelt nach vorn auszubreiten. Longe-Côte folgt keinen festen Regeln. Strömungen, Brisen, Wogen und persönliche Kraftreserven reißen die Gruppe auseinander. Samyn bemüht sich, den Überblick zu behalten.
„Es gibt keine Gefahren wie Steine oder Felsen“, hatte er vorher versichert, „das ist alles nur Sand.“ Am Ende zurück am Strand, schätzt er unser absolviertes Tempo im Wasser auf zwei Kilometer pro Stunde. Longe Côte ist kein Wettlauf und kein Aquajogging. Lisa Fourrier (37) und ihre Freundin Cécile Garbé (35) fühlen sich so ausgepowert wie ich. „Ich habe das gemocht, auf diese Art im Meer zu sein“, sagt Cécile und keucht noch ein wenig.
Verbindung zwischen Mensch und Meer – und Riesenspaß
Longe-Côte schafft eine besondere Verbindung zwischen Mensch und Ozean, Körper und Geist. Die Bewegung zieht immer weitere Kreise, wenngleich es bislang keine Massenevents gibt. Bei der Dünkirchener Vereinigung „Opale Longe Côte“ melden sich pro Jahr etwa 1.200 Teilnehmer an, bei Thomas Wallyn 300. Er erzählt, dass es mittlerweile etwa 130 Longe-Côte-Clubs in zehn Ländern gebe, darunter in Italien, Großbritannien, Marokko. Abseits vom Meer ist die Sportart sogar in Binnenseen übergeschwappt.
„All das macht mich stolz“, sagt Pionier Wallyn. Finanziell hat er nichts davon, nirgendwo geht es um Kommerz. Er besitzt kein Patent, keine Lizenz. „Für mich sind die Begegnungen und die Bewegung wichtig“, sagt er, „außerdem ist Longe-Côte ein geselliger Riesenspaß.“ Das stimmt, wie ich nach zwei Touren bilanziere: Über all die anderen Muskeln hinaus sind auch die Lachmuskeln strapaziert worden.
Links, Tipps, Praktisches:
Reiseziel: Dünkirchen liegt in Nordfrankreich in der Region Hauts-de-France, nahe der Grenze zu Belgien.
Reisezeit: Longe-Côte wird das ganze Jahr über angeboten, außer bei starkem Wellengang. Richtig warm ist es nie; selbst im Sommer steigen die Temperaturen der Nordsee kaum über 20 Grad.
Anreise: mit der Bahn über Paris oder im eigenen Auto. Die Fahrstrecke beispielsweise von Köln nach Dünkirchen beträgt 370 Kilometer, ab Dresden 830 und ab Nürnberg 770 Kilometer.
Unterkunft: Die Palette in Dünkirchen reicht von Gasthäusern und Appartements bis zum Campingplatz und feudalen Strandhotel.
Touren: Über lediglich zwei Stellen lässt sich in Dünkirchen die Teilnahme an Longe-Côte organisieren. Touren mit Erfinder Thomas Wallyn (er spricht gut Englisch) bucht man über das lokale Fremdenverkehrsamt; 12,50 Euro kostet die Teilnahme. Touren mit der Vereinigung „Opale Longe Côte“ kosten 10 Euro; hier sind Französischkenntnisse empfohlen. Bei beiden Anbietern sind die Ausleihe von Neoprenanzug und Wasserschuhen im Preis enthalten.
Weiterführende Informationen: dunkerque-tourisme.fr