Touren, wo getrauert wird Spaziergänge über Berlins Friedhöfe
Allein die Anzahl verblüfft: Mehr als zweihundert Friedhöfe zählt Berlin. Auf manchen gibt es Führungen, die so vielfältig sind wie die Stadt selbst. Oft geht es um Promis - aber auch Weltgeschichte.
Berlin - Was steht denn nun auf dem Grabstein von Willy Brandt? Seit Jahren hält sich das Gerücht, dort sei der Satz „Man hat sich bemüht“ eingraviert. Vermutlich deshalb, weil der SPD-Politiker sich diesen Ausspruch einmal selbst als Inschrift gewünscht hatte - allerdings nur scherzhaft in einem Interview.
Doch Brandt, der 1992 starb, hat einen schlichten Grabstein: Er trägt lediglich seinen Namen. Sogar Geburtsjahr und Sterbedatum fehlen. „Er ist einfach so bekannt, dass man davon ausgeht, dass die Leute wissen, wann er geboren und gestorben ist“, meint Ulrich Thom.
Thom ist Stadt- und Friedhofsführer. Zusammen mit seiner Frau Hildegard Verlage bietet er Touren über Berliner Friedhöfe an. Darunter ist auch der Waldfriedhof Zehlendorf, auf dem neben Brandt die Sängerin Hildegard Knef beerdigt ist, die unter anderem bekannt wurde mit dem Chanson „Für mich soll’s rote Rosen regnen“.
Brandt und Knef sind nur zwei von vielen bekannten Persönlichkeiten, die dort ihre letzte Ruhestätte haben. Und der Waldfriedhof Zehlendorf ist nur einer von vielen Friedhöfen in Berlin, auf denen sich Grabstätten oder Gedenksteine prominenter Persönlichkeiten befinden. Dazu zählen:
Und die Sängerin Nico, die mit der Band The Velvet Underground berühmt wurde, ist auf dem im Volksmund sogenannten „Selbstmörderfriedhof“ im Forst Grunewald beigesetzt worden, der 1879 für im Grunewald aufgefundene, unbekannte Tote angelegt wurde und auch „Friedhof der Namenlosen“ genannt wird. Nico aber hat einen Namen und starb darüber hinaus nach einem Fahrradunfall.
Zurück nach Zehlendorf. Dort ist nicht nur Willy Brandt bestattet, sondern auch seine zweite Ehefrau Rut. Weil die beiden geschieden waren, liegt ihr Grab an anderer Stelle.
Mit detektivischem Gespür zum nächsten Grab
Überhaupt die Stellen: Man muss natürlich wissen, wo die berühmten Leute liegen. „Ich muss mir immer merken, wo es lang geht“, sagt Thom, der sich mal an einem Strauch orientiert, mal an einem Grabstein. Er deutet auf einen. „Wenn sie den da mal wegmachen, bin ich aufgeschmissen.“
37,5 Hektar misst der Waldfriedhof Zehlendorf, der ab 1946 in einem Kiefernwald angelegt worden ist. Viel Wald- und Grabfläche, kaum Hecken. Um die 40.000 Tote sind dort bestattet, 44 von ihnen haben Ehrengräber der Stadt Berlin erhalten - ein Gedenkstein am Grab weist jeweils darauf hin.
Von diesen Ehrengräbern gebe es stadtweit mehr als 680, sagt Thom. Aber nur knapp 80 seien bislang an Frauen vergeben worden. Rut Brandt und Hildegard Knef sind darunter. Ehrenbürger der Stadt bekämen nach ihrem Tod automatisch ein Ehrengrab, für alle anderen müsse ein Antrag beim Senat gestellt werden. Die Warteliste sei lang, die Genehmigung dauere.
Neben den Prominenten mit Ehrengrab gibt es also auch einige ohne - da müsse man dann detektivisch vorgehen. „Manchmal wissen wir nur, in welchem Bereich jemand liegt, dann suchen wir.“
Stadtgeschichte statt Pietätlosigkeit
Der 70-jährige Rentner, der einst Jura, Geschichte und Philosophie studierte, mag an Friedhöfen, dass dort etwas greifbar werde. Eigentlich, überlegt er, komme man einer Person doch nirgends näher als an ihrem Grab. Andere mögen denken: Am Ende ist es nur ein Grabstein. Zumindest weglaufen können die Leute nicht mehr, wenn sie unter der Erde liegen.
Aber sind Grabstätte nicht immerhin so intime Orte, dass ihre touristische Vermarktung pietätlos wäre? Sind Touren über Friedhöfe unangebracht? Ulrich Thom und seine Frau finden: nein. Sie wollen das Andenken der Menschen wahren. „Wir vermitteln auch ein Stück Stadtgeschichte“, sagt Verlage.
Mehr als drei Stunden dauert die Tour, die das Ehepaar anbietet. An den Gräbern erzählt Thom etwas über die Personen, Verlage zeigt Bilder und liest aus den Biografien. Es geht etwa um den FDP-Bundespräsidenten Walter Scheel oder den Architekten Hans Scharoun, von dem die Berliner Philharmonie stammt.
Am Grab von Ernst Reuter, einst Oberbürgermeister im geteilten Berlin, erinnert Thom an dessen berühmte Rede vor dem Reichstagsgebäude im September 1948. Darin warb er dafür, die Stadt per Luftbrücke zu versorgen: „Ihr Völker der Welt [...], schaut auf diese Stadt!“ Und am des Widerstandskämpfers Jakob Kaiser, der sich gegen die NS-Diktatur auflehnte, weist Thom auf die Grabplatte hin, in der Kaiser selbst als steinerne Figur verewigt ist.
Gottesäcker, viermal so groß wie das Tempelhofer Feld
Auch die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gehören zur Friedhofskultur. Rund 120.000 solcher Gräber finden sich laut Angaben der Senatsverwaltung in Berlin. In Zehlendorf liegt der italienische Ehrenfriedhof, angelegt 1953. Dort sind vor allem Soldaten, aber auch Zivilisten und Zwangsarbeiter bestattet, die während des Zweiten Weltkrieges in Berlin und Umgebung ermordet wurden. Mehr als tausend Kissensteine und ein Mahnmal erinnern an die Italiener.
Über zweihundert Friedhöfe gibt es in der Hauptstadt. Ihre Größe entspricht ungefähr dem Tempelhofer Feld mal vier, wie sich im Internet unter „Mein Kiez. Mein Friedhof“ nachlesen lässt, einer Initiative der Senatsverwaltung und dem Gartenbauverband Berlin-Brandenburg. Eine Karte zeigt dort alle Friedhöfe der Hauptstadt.
Die Webseite führt zudem eine Liste mit Veranstaltungen und Führungen verschiedener Anbieter auf Berliner Friedhöfen. Das Angebot ist so vielfältig wie die Stadt selbst.
Auf dem Böhmischen Gottesacker in Rixdorf in Neukölln geht es etwa um Bestattungskultur. Bei einer Tour auf dem Friedhof der Märzgefallenen am Volkspark Friedrichshain wird an die Revolution 1848/49 erinnert. Und die Führungen über den bekannten Dorotheenstädtischen Friedhof in Mitte drehen sich um Kulturgeschichte.
Liegebänke zum Verweilen
Und natürlich kann man Berlins Friedhöfe auch ohne offizielle Führung aufsuchen - nicht nur für die Trauerarbeit, sondern auch zum Spazierengehen durch Ruheoasen mitten in der Stadt jenseits eines oft hektischen Alltags. Auf dem Waldfriedhof Oberschöneweide wurden jüngst sogar Liegebänke aufgestellt. Und wer Berlins kleinsten Friedhof Peter und Paul besuchen will, könnte das mit einem Besuch der Pfaueninsel verbinden.
Letzte Frage an Thom, der nach Ende der Tour erzählt, wie er während einer Reise in St. Petersburg zufällig auf das Grab von Dostojewski stieß. Gibt es ein Grab, das er noch besuchen will? Vielleicht schaffe er es mal nach New York. Zur Straße, in der John Lennon erschossen wurde. An solchen Orten werde Geschichte für ihn real.
Service:
Führungen: Die Spaziergänge mit Ulrich Thom über verschiedene Berliner Friedhöfe dauern zwei bis drei Stunden und kosten pro Person 10 bis 12 Euro, Voranmeldungen unter www.berlinsicht.de. Führungen weiterer Anbieter und Karte zu Berliner Friedhöfen unter www.meinkiez-meinfriedhof.berlin.de
Ehrengräber: Eine aktuelle Liste findet sich unter berlin.de.