Ausgrabung Als Wahlitz 100.000 Besucher zählte
Auf dem Taubenberg fand vor 70 Jahren eine der größten Grabungen in Ost und West statt. 100.000 Besucher waren damals mit dabei.
Wahlitz l Als Fundstelle war das Dünengelände östlich von Wahlitz schon mindestens seit 1928 bekannt. Da war es 20 Jahre später, im Winter 1948, selbstverständlich, dass die Bodendenkmalpfleger Hans Lies und Ernst Ebert einen aufmerksamen Blick darauf hatten, als der Wald auf dem Taubenberg geschlagen wurde. Und tatsächlich, in den Rodungslöchern fanden sie urgeschichtliche Scherben. Bei sonntäglichen Einsätzen vergrößerten Lies und Ebert ihren Probeschnitt. Sie legten unter anderem Pfostenspuren und drei Gräber frei. Ein kleines Haus der Rössener Kultur wurde bei einer Lehrgrabung des Instituts für Vor- und Frühgeschichte der Universität Halle im Oktober 1949 entdeckt. Auch Spuren der Schönfelder Kultur zeigten sich.
Lies‘ und Eberts Erfolg kam nicht von ungefähr. Sie gehörten zu den „tüchtigsten und wissenschaftlich qualifiziertesten Helfern in den Bezirken Halle und Magdeburg“, betonte der zeitweilige Ausgrabungsleiter Friedrich Schlette. Beide wurden in Anerkennung ihrer Verdienste in der Bodendenkmalpflege mit der Leibniz-Medaille der Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet.
Die Funde in Wahlitz wurden genau zur richtigen Zeit gemacht. Im März 1950 fand in Halle eine Fachtagung zur Frühgeschichte der Landwirtschaft statt. Es versammelten sich Vertreter der Ur- und Frühgeschichte ebenso wie Völkerkundler, Botaniker, Zoologen, Geografen, Geologen und Experten der Landwirtschaft. Professor Werner Rothmaler ging als Initiator davon aus, „dass das Erkennen bestimmter, über einen längeren Zeitraum wirkender biologischer Prozesse sehr wohl heutige Entscheidungen auf dem Gebiet der Kulturpflanzen- und Haustierforschung beeinflussen kann“.
Die Hinwendung zur Frühgeschichte der Landwirtschaft war aus Sicht von Dr. Thomas Weber, langjähriger Mitarbeiter des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, auch eine politische Entscheidung – nach dem Rassenwahn des Nationalsozialismus.
Bei der Wahl des Grabungsortes erfüllte der Wahlitzer Taubenberg alle Voraussetzungen: keine Bauwerke, kein Baugelände und kein hochwertiges Ackerland. Der Begriff „taub“ geht vermutlich darauf zurück, dass die Fläche für Ackerbau nicht geeignet ist.
Der Schienenstrang der Bahnstrecke Magdeburg-Dessau diente bei der Vermessung 1950 als Orientierung. Jedes Quadrat wurde exakt bezeichnet. Während der Grabungsarbeiten ist jedes einzelne Fundstück, ob Gefäß, Scherbe, Feuersteingerät, Holzkohle, Getreidekorn oder Tierzahn, sofort gesäubert und katalogisiert worden. Funde aus einem Quadrat kamen in einen entsprechend bezeichneten Beutel oder erhielten bei größeren Stücken die Nummer des Quadrats. Seit 1951 arbeitete ein Grafiker vor Ort. Zusätzlich war in Halle eine technische Kraft allein mit der Kartei- und Magazinarbeit beschäftigt.
Die archäologische Grabung auf dem Taubenberg ist aus verschiedenen Gründen außergewöhnlich. Zum einen erforderte sie „erhebliche materielle und finanzielle Mittel“ in einer Zeit, die „noch an jeden und nicht zuletzt an den Staat große Forderungen zur Sicherstellung der materiellen Existenz stellte“, wie Friedrich Schlette 1970 im Ergebnisband über die Grabung in Wahlitz schrieb. Zum anderen sind bis heute hauptsächlich sogenannte Notgrabungen üblich. Diese werden erforderlich, wenn Bauarbeiten die Funde im Boden zu zerstören drohen. Sonst gilt die Maxime: Die Funde sind nirgendwo besser aufgehoben als an ihrem jetzigen Standort. Nimmt man sie aus dem Boden heraus, werden sie mit dem völlig anders gearteten Milieu der Luftatmosphäre konfrontiert.
Wie auf der Tagung vereinbart, erhielten die Archäologen bei ihrer Grabung in Wahlitz Unterstützung aus anderen Fachrichtungen. So wurde gemeinsam mit Geologen und Bodenkundlern der Aufbau der Düne geklärt. Geologische Bohrungen waren es auch, die die Frage nach der Wasserversorgung beantworteten. In der Senke südlich der Düne hatte es einst einen „Resttümpel einer früheren Hochwasserperiode der Elbe gegeben“, wie Fritz Reuter und Helmut Schmidt berichteten. Ein 4,20 Meter langes Peilstangenbohrgerät war für die Untersuchungen zum Einsatz gekommen. Inwieweit die Siedlungen auf den Tümpel angewiesen gewesen seien, darauf wollten sie sich jedoch nicht festlegen. „Seen, in denen auch Fischfang betrieben werden konnte, waren westlich von Wahlitz in vorgeschichtlicher Zeit sicher in ausreichender Menge vorhanden.“
Als damals noch junger Zweig der Chemie kam in Wahlitz die Phosphatmethode zur Anwendung. Überall, wo Mensch und Tier leben, werden phosphathaltige Ausscheidungen im Boden hinterlassen.
1950 begannen die Untersuchungen des Taubenberges unter Leitung von Paul Grimm. Die Befürchtung, dass die Funde der Rössener und Schönfelder Kultur sich überschneiden würden und sich deshalb kein klares Bild ergebe, habe sich nicht bestätigt, fasste er in seinem Bericht 1953 zusammen. Ganz im Gegenteil: „Das Vorhandensein zweier Kulturen unter fast gleichen Umweltbedingungen ermöglichte einen Vergleich der Wirtschafts- und Lebensweise“.
Auf etwa 180 Mal 180 Meter dehnte sich die Siedlung der Rössener Kultur aus, die die Archäologen auf der höchsten Stelle des Taubenberges in Form von Hunderten Pfostenlöchern, Siedlungsgruben, zwei Feuersteinschlagplätzen, einer Töpferstelle und mehreren Herd- und Ofenanlagen freilegten. Die nahe gelegenen Eichenmisch- und Kiefernwälder lieferten Nutz- und Brennholz, und auf den nördlich der Siedlung gelegenen Mergelflächen konnte Ackerbau betrieben werden.
Berthold Schmidt ging davon aus, dass etwa 100 bis 120 Menschen in der Siedlung lebten und gemeinsame Wirtschaft – Feldbau und Viehzucht – betrieben. Wobei die Viehzucht fast keinerlei Spuren hinterlassen hat: „Der kalkfreie Sand konservierte die Tierknochen nicht“. Deshalb weisen kaum mehr als Zähne von Rindern auf die Viehhaltung hin. Durchlöcherte Scherben von Siebgefäßen sind ein deutliches Indiz, dass die Menschen schon damals die Zubereitung von Quark kannten.
In 300 und 500 Metern Entfernung konnten die Archäologen zwei weitere Siedlungen entdecken, „die als in sich abgeschlossene soziale Einheiten betrachtet werden müssen“.
Dass die Ansiedlung aus der Jungsteinzeit so gut erhalten blieb, hing mit der Überwehung der Düne zusammen. Die neue Sandschicht konservierte den Bestand.
In der frühen Bronzezeit siedelten abermals Menschen auf dem Taubenberg und legten auf der Kuppe der Düne einen großen Friedhof an, der in späterer Zeit ebenfalls wieder von Sand überweht wurde. Sandaufwehungen sind typisch für Trockenperioden.
Bei dem Gräberfeld der Schönfelder Kultur erlangten die Archäologen erstmals „gewisse Vorstellungen über Anlage und Größe dieser Bestattungskultur“. 44 Brandgräber, die fast ebenerdig angelegt wurden, konnten vollständig oder in Teilen untersucht werden. Die dazugehörige Siedlung befand sich vermutlich am Hang des Taubenberges. Während aus Gerwisch ein Hausgrundriss und Hausinventar der Schönfelder Kultur in Randau nachgewiesen werden konnten, gelang das in Wahlitz nicht.
Die insgesamt 80 Gräber sind in einem Zeitraum von etwa 150 Jahren entstanden. Theodor Voigt, der die Grabungsleitung in Wahlitz von 1951 bis 1956 innehatte, glaubte einen „eindeutigen Beweis dafür zu sehen, dass diese frühbronzezeitliche Gruppe auf keinem Fall nur kurzzeitig ansässig gewesen ist“.
Zusätzlich zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Frühgeschichte der Landwirtschaft wurde die Grabung in Wahlitz vielfältig genutzt: Mehr als 100 ehrenamtliche Bodendenkmalpfleger, hauptsächlich aus den Bezirken Halle und Magdeburg, wurden in zweiwöchigen Lehrgängen in der Ausgrabungspraxis aus- und weitergebildet. Die Grabung diente der praktischen Ausbildung zahlreicher Studenten. „Viele Fachkollegen haben sich dort sozusagen die ersten Sporen verdient“, blickte Professor Schlette 1970 zurück. Für den Hallenser hatte die Grabung in Wahlitz nicht nur beruflich, sondern auch privat eine herausragende Bedeutung: Er fand in der Wahlitzer Bürgermeisterin Gertrud Laupichler die Frau fürs Leben. „Wahlitz war mir, nachdem ich 1944 durch Kriegswirren meine Heimat verlor, mein zweites Zuhause geworden. So fühlte ich mich in der Gemeindeverwaltung, wo ich von 1946 bis 1950 als Sekretärin arbeiten durfte, sehr wohl. Ab dem 10. Juli 1950 hatte man mir die vollkommene Verantwortung durch die Wahl als Bürgermeister übertragen“, erinnerte sie sich in einem Brief an den damaligen Bürgermeister Wolfgang Rauls (abgedruckt in der Wahlitzer Chronik) gerne an ihre Zeit in Wahlitz zurück:
Es gab keinen Archäologen in der DDR, der die Grabung auf dem Taubenberg nicht mehrfach aufsuchte. Auch westdeutsche und ausländische Kollegen waren in Wahlitz zu Gast. Beispielsweise im Oktober 1953, als die Tagung der Sektion für Vor- und Frühgeschichte der Akademie der Wissenschaften eine Exkursion zur Grabung unternahm.
Die mustergültige Anlage wurde obendrein genutzt, in Kooperation mit der Film- und Bildstelle der Martin-Luther-Universität einen Lehrfilm zu drehen, der den kompletten Prozess vom Entdecken des Fundplatzes über Ausgrabung, Präparation und wissenschaftlicher Aufarbeitung bis zur fertigen Publikation umfasste.
Schließlich war das Interesse der Menschen aus der näheren und weiteren Umgebung so groß, dass allein ein Assistent des Grabungsleiters für Führungen abgestellt werden musste. Der Andrang in Wahlitz verlangte, die anfangs übliche Praxis, dass Schulklassen einfach vorbeischauten, abzustellen. Voranmeldungen wurden notwendig. Täglich von 7 bis 15 Uhr sowie jeden ersten und dritten Sonntag im Monat fanden die Führungen statt.
Mit einer kleinen Ausstellung von Fundstücken, Plänen und erläuternden Texten, zeitweise im „Waldhaus“, zeitweise in einer der drei Baubaracken auf dem Taubenberg untergebracht, war die Grabungsmannschaft gut auf Besucher vorbereitet. Friedrich Schlette schätzte die Besucherzahlen auf bis zu 100.000. Allein im zweiten Halbjahr 1953 seien es über 10.000 Interessierte gewesen. Unweit des Bahnhofs gelegen, war die Grabungsstelle für jedermann unkompliziert zu erreichen. Eine große Tafel „Zum Ausgrabungsgelände der Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der frühgeschichtlichen Landwirtschaft“ wies den Weg.
Nicht nur die Volksstimme berichtete mehrmals über die archäologische Grabung, sondern auch überregionale Zeitungen und Zeitschriften (aus Ost und West gleichermaßen) sowie Rundfunksender. Zudem waren Mitarbeiter für Vorträge unterwegs. Das Dorf Wahlitz konnte Anfang der 1950er Jahre jeder kennen.
Nicht in allen Punkten lieferte die Grabung die erwünschten Funde. Fragen blieben unter anderem zum Hausbau der Rössener Bevölkerung offen. Bautechnische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Erkenntnisse hätten damit gewonnen werden können, schrieb Friedrich Schlette. Weil keine weiteren Erkenntnisse mehr zu erwarten waren, wurde auf eine komplette Untersuchung des 50.000 Quadratmeter großen, voraussichtlich besiedelten Dünengeländes verzichtet. Im Herbst 1955 wurde begonnen, die Flächen wieder einzuebnen. Ab 1956 standen sie zur Wiederaufforstung bereit.