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Lebenshilfe Im Werkstatt-Alltag ist jeder Tag anders

Wie leben, arbeiten und vergnügen sich die Menschen in Deutschlands drittgrößter Stadt? Ein Vormittag in der Lebenshilfe-Werkstatt.

Von Donald Lyko 12.01.2016, 02:00

Gardelegen l Die Nacht weicht langsam dem Tageslicht, doch im Bereich Montage 5 der Gardeleger Hauptwerkstatt der Lebenshilfe „Altmark-West“ gGmbH am Standort An den Burgstücken geht es schon munter zu. Kein Wunder, denn um 7.30 Uhr hat die Arbeit begonnen. Für Kerstin und Birgit Andreas, Zwillingsschwestern aus Klötze, bedeutet das: Sie sind schon ein paar Stunden auf Achse. 4.30 Uhr klingelt für die erste der beiden 56-Jährigen der Wecker. „Wir Frauen brauchen im Bad eben etwas länger“, sagt Birgit Andreas schmunzelnd. Mit dem frühen Aufstehen haben sich die Klötzerinnen arrangiert. „Wir gehen früher ins Bett“, erzählt Kerstin Andreas. Sie und ihre Schwester haben ihre Kindheit in Kalbe verbracht, haben in Magdeburg Damenmaßschneiderin gelernt und später als Näherinnen gearbeitet, waren 2001 mit ihren Eltern nach Klötze gezogen – und arbeiten seit 2012 in der Lebenshilfe-Werkstatt.

Nach einem Jahr im Bildungsbereich sind sie jetzt seit zwei Jahren in der Montage eingesetzt. „Die Arbeit macht Spaß, aber manchmal ist es anstrengend für die Hände“, sagt Birgit Andreas, während sie Federn, Verriegelung und Zahnräder in eine Autoschublade einsetzt. Beide Frauen sitzen im Rollstuhl, leiden an der Glasknochenkrankheit. „Aber wir haben noch ein Auto, damit sind wir mobiler“, sagt Kerstin Andreas, die ihrer Schwester am Arbeitsplatz gegenüber sitzt.

Am Nachbartisch unterhalten sich die Beschäftigten mit Mario Laurich. Der Gruppenleiter von Montage 4 ist in dieser Woche als Vertretung für einen Kollegen auch für die Montage 5 zuständig. Verantwortlich ist er sogar für sechs Arbeitsbereiche, denn der 45-jährige Gardeleger ist deren leitender Betreuer. Und er ist, im positivsten Sinne, ein alter Lebenshilfe-Hase. Vor 25 Jahren, in der spannenden Aufbauphase, leistete er dort seinen Zivildienst, bekam Spaß an der Arbeit. Und er blieb. Berufsbegleitend erwarb der ausgebildete Werkzeugmacher eine sonderpädagogische Zusatzausbildung, machte den Abschluss zum Gruppenleiter in Werkstätten für Behinderte. Nach mehr als zehn Jahren in der Miester Werkstatt wechselte der Vater zweier Kinder nach Gardelegen, wo derzeit rund 100 Menschen mit Behinderung beschäftigt sind, darunter zirka 25 mit körperlicher und sechs mit seelischer Behinderung.

Für Mario Laurich und seine Gruppenleiterkollegen hat der Tag um 7 Uhr begonnen – wie an jedem Arbeitstag. „Bis 7.20 Uhr besprechen wir den Arbeitsalltag“, erklärt der 45-Jährige. Zu dem, was besprochen werden muss, gehört auch die tägliche Dringlichkeitsliste mit den Teilen, die der Auftraggeber in bestimmter Stückzahl dringend benötigt. Etwa 90 Prozent der Aufträge kommen vom Gardeleger Boryszew-Werk, ehemals AKT. Bei der Besprechung wird geschaut, welche Beschäftigten an dem Tag da sind. Ihr Einsatz wird entsprechend der Aufträge geplant. An diesem Vormittag werden die Schließvorrichtungen für eine Schublade und die Wippen für Klapptische für den VW Touran vormontiert.

Um 7.30 Uhr sind alle Beschäftigten im Haus, dann ertönt die Klingel zum Arbeitsbeginn – und der bedeutet eine kurze, etwa 15-minütige Beratung in den einzelnen Bereichen. „Wir besprechen, was für den Tag anliegt und wer an welchem Platz arbeitet“, erklärt Mario Laurich. Denn wenn bis zum Feierabend mehrere tausend Stück eines Artikels montiert werden müssen, muss sich der Gruppenleiter morgens fragen: Welcher der Beschäftigten schafft das? Kein Problem für Mario Laurich, denn er kennt die Frauen und Männer, viele seit Jahren.

„In der Regel bleiben die Beschäftigten in ihren Arbeitsbereichen. Wenn sie wechseln, absolvieren sie im neuen Bereich erst ein dreimonatiges Praktikum“, erklärt er. „Neuankömmlinge“ durchlaufen erst den eineinhalbjährigen Berufsbildungsbereich, „damit wir sehen, wo ihre Stärken liegen“. Die morgendlichen Runden nutzen die Gruppenleiter als Stimmungsbarometer. „Um bestimmte Dinge abzufangen. Man merkt schnell, wie der eine oder andere drauf ist, worauf man reagieren muss“, erklärt Harry Wenzel, Produktionsleiter der Werkstätten. Zum Ende des Arbeitstages gibt es dann noch ein Abschlussgespräch. Wenzel: „Um Dinge zu besprechen, die sich am Tage angesammelt haben.“

Ins Gespräch hinein ertönt erneut eine Klingel – vor allem für Beschäftigte, die die Uhr nicht kennen. „Es ist Frühstückszeit“, sagt Mario Laurich und schnappt sich seine Brotbüchse. Die Mahlzeiten werden immer im Speiseraum eingenommen. Der rechte Werkstattflügel und die Verwaltung kommen von 8.15 bis 8.30 Uhr, der linke folgt von 8.45 bis 9 Uhr. Auch Mittag und Vesper gibt es in zwei Durchgängen.

Viele haben ihr Frühstücksbrot dabei, andere nutzen das Angebot des Küchenbereiches, greifen bei den belegten Brötchen oder beim Obst zu. Und schauen auch gleich mal, was es zum Mittag geben soll. Der Hauswirtschaftsbereich kocht ein Tagesgericht selbst, ein externer Anbieter bringt ebenfalls ein Tagesgericht auf den Tisch. Die Wahl an diesem Donnerstagsvormittag: Backfisch mit Kräutersoße und Kartoffeln oder Hacksteak mit Gemüse aus der hauseigenen Küche. Auf der Tafel des Essenanbieters hängen Bilder, das Gericht aus der Lebenshilfe-Küche wird zur Essenausgabe mit einem Schauteller präsentiert – denn nicht jeder kann lesen, was auf dem Plan steht.

Ein Plan, der in seiner Grundgestaltung überall bei der Lebenshilfe „Altmark-West“ zu finden ist. Ein Mond steht für Montag, ein Postbote, der Dienst hat, für Dienstag, am Mittwoch wird Obst zerschnitten, weil die Woche geteilt wird. Blitz und Donner sind der Donnerstag, am Freitag fliegt ein Vogel in die Freiheit, also ins Wochenende. „Solche Wochenpläne hängen in jeder Werkstatt, in jeder Wochengruppe, in jedem Wohnbereich“, erklärt Mario Laurich. Die Tage haben nicht nur Piktogramme, sondern auch unterschiedliche Farben, beginnend mit Grün für Montag, Gelb für Dienstag, Blau für Mittwoch… „Das ist für uns ein wichtiges Kommunikationssystem“, sagt der leitende Betreuer, während wir den Speisesaal verlassen.

In der Montage 4 angekommen, geht er gleich noch einmal zum Plan. „Sehen Sie, derselbe Aufbau.“ An dieser Tafel sind aber keine leckeren Speisen zu sehen, sondern Porträtfotos. Sie zeigen die Mitarbeiter, die im Urlaub oder krank sind, zeigen an, wer von den Beschäftigten heute noch zur Ergotherapie oder einem anderen therapeutischen Angebot muss oder wer wann welche Ruhezeiten hat. In extra dafür eingerichteten Räumen können sich die Männer und Frauen dann hinlegen. Einige nutzen auch arbeitsbegleitende Kurse wie aktuell einen zur gesunden Ernährung. Mario Laurich zeigt noch einmal auf den Wochenplan: „Der ist wichtig für die Beschäftigten, aber im Vertretungsfall auch für uns Gruppenleiter.“ Und er ist wichtig, weil er Wissen vermittelt. So gibt es eine Gebärde der Woche, aktuell für das Wort Fleisch. Neben einem Foto sind das Piktogramm und die Gebärde dafür zu sehen.

Der Wochenplan nimmt sich vergleichsweise klein aus gegenüber dem, was an den anderen Wänden in den Werkstattbereichen hängt. In Bild und Text werden ausführlich alle Arbeitsschritte für jedes der Teile, die montiert werden, beschrieben. „So haben wir alles auf einen Blick, zur Anschauung für die Beschäftigten, aber auch für die Gruppenleiter, wenn sie einen Kollegen vertreten“, erklärt Mario Laurich beim Rundgang durch die Werkstattbereiche. In einem werden an einer von Haustechniker Rüdiger Mudrich selbst gebauten Maschine Ölrohre für ein Audi-Modell geprüft, in der Kreativwerkstatt entstehen viele schöne Dinge, alles Unikate. Der Nachbarraum ist noch leer, denn erst am Nachmittag trifft sich dort der Berufsbildungsbereich. Am Vormittag arbeiten die Männer und Frauen in ihren Bereichen, nach dem Mittagessen gibt es Bildungsangebote.

Die gibt es auch für die langjährigen Beschäftigen. Sie können sich qualifizieren, zum Beispiel zum Prüfassistenten. „Für jeden werden konkrete Förderziele festgelegt“, erzählt Mario Laurich in seinem Büro und holt einen dicken Ordner aus dem Schrank. Darin dokumentiert ist für jeden einzelnen Beschäftigten in seiner Gruppe Montage 4, wo er aktuell steht, was in Sachen Bildung bereits passiert ist und welche Qualifizierung er hat. „Das Bildungssystem in der Lebenshilfe Altmark-West haben wir komplett selbst aufgebaut“, sagt der leitende Betreuer und fügt hinzu, dass sich mittlerweile andere Einrichtungen schon dafür interessieren.

Nach 25 Jahren hat Mario Laurich noch immer Spaß an seiner Arbeit. „Weil jeder Tag anders ist, immer mit anderen Herausforderungen“, sagt er und wendet sich Dietmar Weber zu. Der Kassiecker ist seit neun Jahren bei der Lebenshilfe in Gardelegen beschäftigt. „Ich wollte nicht zuhause sitzen“, sagt der 59-Jährige, der früher in der Landwirtschaft tätig war, wegen eines Augenleidens den Beruf aber nicht mehr ausüben kann. In der Montage 4 ist er jetzt auch Prüfassistent. Der Fahrdienst holt ihn morgens ab und bringt ihn nach der Arbeit nach Hause. Bis zum Feierabend um 16 Uhr (freitags schon 13.30 Uhr) dauert es aber noch, jetzt geht erst einmal die Klingel, die die Mittagspause einläutet.