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Lesung Deutsch-russische Plaudereien

Er war Kunststudent auf der Krim und am Freitag zu Gast in Gardelegen: Sergej Lochthofen.

Von Gesine Biermann 22.02.2016, 12:05

Gardelegen. Nein, eigentlich war es keine Lesung. Jedenfalls nicht im Wortsinn. Zum Lesen nämlich kam er irgendwie gar nicht so recht, der Autor von „Schwarzes Eis“ und „Grau“ – obwohl er seine Bücher natürlich mitgebracht hatte. Stattdessen plauderte Sergej Lochthofen am Freitagabend aus seinem Leben. Kein Problem für die, die ihm zuhörten, sein Leben ist nämlich mindestens ebenso spannend wie seine Bücher.

Denn der Mann ist und war nicht nur in Deutschland zu Hause – auch wenn er seit der Wende den bundesdeutschen Pass hat. In Lochthofens schlägt das Herz auch russisch. Geboren im sowjetischen Workuta, mitten im Permafrost nördlich des Polarkreises, zieht er mit den Eltern – Vater Deutscher, Mutter Russin – als Fünfjähriger in die damalige DDR, besucht in Ohrdruf bei Gotha eine russische Schule, obwohl der Vater als einziger kein russischer Offizier war – und legt mit 16 Jahren schließlich auch ein russisches Abitur ab.

Deutsch zu sprechen lernt er von den Kindern auf der Straße, „beim Tauschen von bulgarischem Tabak gegen Digedag-Hefte“; und die werden dann schließlich zu seinen ersten deutschen Lesebüchern. „Meinen ersten deutschen Satz habe ich mit 18 geschrieben. Und ich glaube, ich war später der einzige deutsche Chefredakteur, der nie auch nur eine einzige Stunde Deutschunterricht hatte“, sagt Lochthofen grinsend in völlig akzentfreiem Deutsch. Dass er ebenso perfekt russisch spricht – so richtig schön mit rollendem R – wird aber spätestens klar, als er das erste russische Sprichwort herausholt. Wie alle Russen liebt er Sprichwörter.

Dieses heißt übersetzt: „Egal wie du den Wolf fütterst, er schaut immer in den Wald“ – eine Metapher dafür, wie wenig die sowjetische Führung der DDR einst wirklich traute. Damit ist Lochthofen bei seinem Lieblingsthema angekommen, der Politik. Und da nimmt er kein Blatt vor den Mund.

Warum auch, schließlich kennt er beide Seiten: „Am deutsch-russischen Verhältnis ist nicht nur Russland schuld“, sagt er zum Beispiel. Und auch zur Krim findet er deutliche Worte: „Die Ukrainer haben 25 Jahre lang nichts gemacht, und die Russen können es nicht. Die Krim wird ihnen im Hals stecken bleiben. Sie hätte nur neutral eine Chance.“

Dabei liebt Lochthofen die Krim. Als 16-Jähriger flüchtet er nämlich aus der DDR genau dorthin, zum Großvater, und fängt an, Kunst zu studieren. Schon nach einem Vierteljahr ist er jedoch abgebrannt und müsste eigentlich arbeiten gehen, um sich seinen Lebensunterhalt zu sichern. „Allerdings studiert man schließlich nicht Kunst, um zu arbeiten“, macht er klar. Die Zuschauer lachen laut, wieder einmal.

Bevor sie erfahren, warum es ihn, 18-jährig, schließlich wieder in die DDR verschlägt – Grund ist der drohende Einzug in die „Sowjetski Armi“ – und bevor Lochthofen schließlich doch noch ein kleines Stück aus seinem Buch „Grau“ vorliest – das vom Großvater erzählt, der Stalin kritisierte und deshalb für 30 Jahre in den Gulag ging –, bevor sie erfahren was ein ostdeutscher Redakteur und ein westdeutscher Chefredakteur so alles gemeinsam haben, legt Lochthofen aber erst einmal ein paar seiner Lieblingsplatten von damals auf. Wie jeder Russe liebt er schließlich die Musik. Seine Auswahl setzt die Zuschauer dann aber doch in Erstaunen. Denn neben dem Blue Diamond-Song „Ramona“ und Drafi Deutschers „Mamor, Stein und Eisen“ packt er Stones, Beatles und Manfred Krug auf seine alte Musiktruhe.

Aber natürlich hängen an jedem Stück Erinnerungen, die er den Gästen nicht vorenthält. Und schon kommt er wieder ins Plaudern. Am Ende wissen die Gäste des Fördervereines der Bibliothek – der wieder mal den spannenden Abend organisierte – jede Menge von diesem Mann, seinem Leben und seiner Weltanschauung. Vor allem aber wissen sie, dass da ein Mann mit ihnen plauderte, der weiß, wovon er spricht.

Kurz bevor er geht, sagt er: „Die Welt ist unüberschaubarer geworden“ und „70 Jahre nach dem Krieg lässt irgendwie die Immunität nach. Manch einer will plötzlich wieder beweisen, wer er ist.“ Und er sagt auch: „Es gibt viele kluge Leute in diesem Land – und die anderen haben deutlich zugenommen.“ So mancher geht danach sicherlich ein bisschen nachdenklicher nach Hause als er kam.