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Dokumentation Spurensuche in Gardelegen

Im MDR läuft Dokumentarfilm „Spurensuche in Gardelegen - Das Massaker in der Isenschnibber Feldscheune“, an dem Torsten Haarseim mitwirkte.

Von Torsten Haarseim 04.04.2020, 05:00

Gardelegen l April 1945: Langsam fuhr der amerikanische Jeep den Waldweg nördlich der Ortschaft Hottendorf bei Gardelegen entlang. Es war der 24. April 1945. Die beiden Männer im Jeep, der Second lieutenant Droslem und der Staff sergeant Rohleder, waren auf dem Weg nach Luthäne. Sie waren Angehörige des CIC, des Counter Intelligence Corps des Militärgeheimdienstes der US-Army, zu dessen Aufgaben auch das Aufspüren von Kriegsverbrechern gehörte. Sie hatten einen Tipp aus der Bevölkerung bekommen und fuhren deshalb nach Luthäne. Luthäne war keine geschlossene Ortslage, sondern es waren einzelne im Wald verstreute Gehöfte.

In einem der Häuser soll der SS-General Heinz Jost leben, so lautete der Tipp. Als die beiden Amerikaner das besagte Haus im Wald erreichten, stand eine Frau vor dem Haus. Nach Jost befragt antwortete sie, dass sie hier allein mit dem Mädchen wohnt. Die CIC-Agenten drangen in das Haus ein und fanden den SS-General. Jost war gerade damit fertig, Dokumente und Papiere zu verbrennen. Er wurde nach seinem Namen befragt und in Gewahrsam genommen. Heinz Maria Karl Jost, so sein vollständiger Name, bestätigte den US-Soldaten seine Identität und räumte ein, als ehemaliger Leiter des SD-Amtes Ausland (Sicherheitsdienst)in der SS-Hierarchie des Sicherheitsdienstes der dritte Mann nach Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich gewesen zu sein.

Jost war im Januar 1945 offiziell aus gesundheitlichen Gründen von Himmler pensioniert worden und von Berlin in diesen abgeschiedenen Wald bei Gardelegen gezogen. In seiner SS-Führerakte – überliefert im Bundesarchiv Berlin – befindet sich ein handschriftlicher Dankesbrief von Jost an den Reichsführer-SS, den Heinz Jost schrieb, als er das Einsatzkommando A der Sicherheitspolizei und des SD in Riga leitete: „Riga, den 23.7.42. Reichsführer! Für Ihre Glückwünsche zu meinem Geburtstag sowie für den mir übermittelten Glückwunsch darf ich Ihnen meinen besten Dank sagen. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Heil Hitler. Ihr gehorsamst ergebener Jost, SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei.“

Nach seiner Verhaftung und ersten Vernehmungen wurde Jost nach Richmond in das Camp 0.20 verlegt, einem Sonderlager des britischen Geheimdienstes MI5. Das Lager diente ausschließlich dazu, Angehörige der gegnerischen Geheimdienste zu inhaftieren. Hier wurde Jost mehrere Monate lang ausführlich verhört.

Vom 15. September 1947 bis zum 10. April 1948 wurde der Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess, der neunte von zwölf Nürnberger Nachfolgeprozessen, durchgeführt. Angeklagt waren 24 ehemalige SS-Führer, die als Kommandeure der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD die Verantwortung für die Verbrechen der Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion trugen. Einer der Angeklagten war der SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei, Heinz Jost. Am 10. April 1948 wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt. Später wurde seine Haftzeit auf zehn Jahre reduziert. Am 15. Dezember 1951 wurde er aus dem Kriegsverbrechergefängnis Landsberg entlassen. Danach arbeitete Jost in Düsseldorf als Immobilienmakler.

August 1962: Wolfgang Kauffmann war neun Jahre alt, als seine Familie in Berlin-Buch überraschend Besuch bekam. Die Gäste, die da im August 1962 vor der Tür standen, waren seine Tante Rosemarie aus dem Harzer Städtchen Thale und ihr Ehemann Gerhard Thiele. Er erinnerte sich: „Mein Bruder und ich wurden recht schnell aus dem Zimmer geschickt. Warum, wussten wir nicht“. Was Dr. Wolfgang Kauffmann erst Jahre später erfuhr: Sein Onkel, Gerhard Thiele, war ein gesuchter Nazi-Verbrecher. Gerhard Thiele gilt als der Hauptverantwortliche für das Massaker von Gardelegen – eines der schwersten NS-Verbrechen wenige Tage vor Ende des Zweiten Weltkrieges. 1016 KZ-Häftlinge wurden damals in einer Feldscheune bei Gardelegen ermordet.

Erst heute, nach seiner Pensionierung, findet Dr. Wolfgang Kauffmann Zeit, um sich mit diesem dunklen Kapitel seiner Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Er begibt sich nach Gardelegen und trifft dort einen Mann, der sich mit dem Massaker von Gardelegen intensiv beschäftigt hat – den Historiker Torsten Haarseim. Bis heute lastet dieses Verbrechen schwer auf der Stadt in der Altmark. Gemeinsam gehen die beiden Männer in Gardelegen und in der Umgebung auf Spurensuche und recherchieren in den Archiven.

Gerhard Thiele, der Hauptverantwortliche für dieses Verbrechen in Gardelegen, ist nie zur Verantwortung gezogen worden. 1962, als er bei den Kaufmanns zu Besuch war und in aller Seelenruhe Kaffee trank, galt sein Aufenthaltsort offiziell als unbekannt.

Das Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt führte 1997 erneute Ermittlungen durch und konnte Gerhard Thiele endlich aufspüren. Doch da war es bereits zu spät. Thiele hatte jahrzehntelang unter dem falschen Namen Gerhard Lindemann in Düsseldorf gelebt und war 1994 als unbehelligter Bürger gestorben. Wie war das möglich? Um sich der Beantwortung dieser Frage zu nähern, schauen die Männer zurück, zurück in den Wald von Luthäne in das Jahr 1945 …

Jost lebte mit seiner Tochter und einer Frau im Haus Luthäne im Wald nördlich Hottendorfs relativ abseits. Dennoch hatte er Kontakt zu den örtlichen NS-Funktionären. Zwei Kilometer nordöstlich seines Hauses lag, über einen Waldweg direkt erreichbar, das Hospital Wilhelmshof, eine Außenstelle der Nervenheilanstalt Uchtspringe. Hier in Wilhelmshof trafen sich in den letzten Tagen und Stunden vor der Einnahme der Region durch die US-Truppen mehrere NS-Funktionäre. Einer von ihnen war Rudolf Kampe, der Kommandeur des 2. Volkssturmbataillons Gardelegen. Er fuhr am 13. April 1945 gegen 8.30 Uhr von seinem Gardelegener Wohnhaus nach Jävenitz und später weiter nach Luthäne. Dort sprach Kampe mit dem SS-General. Dann fuhr er zum Hospital Wilhelmshof, wo er acht Tage blieb.

Einen Tag später, am Sonnabend, 14. April 1945, kamen der mit der Leitung beauftragte NSDAP-Kreisleiter Gerhard Thiele und der SA-Standartenführer Bernsdorf in Wilhelmshof an. Am gleichen Tag wurde Gardelegen um 19 Uhr kampflos an die US-Army übergeben. Einen Tag später erreichten die US-Soldaten die Feldscheune Isenschnibbe und entdeckten die Opfer des Massakers. Thiele, der Hauptverantwortliche für das bestialische Massaker, blieb bis zum Montag, 16. April, in Wilhelmshof, bevor er sich, bekleidet mit einem schwarzen Anzug, leichter Oberjacke und einem leichten Hut im bayerischen Stil, auf einem Fahrrad nach Wannefeld und weiter nach Uthmöden davon machte.

Februar 2020: Wolfgang Kauffmann und Torsten Haarseim sind erneut im Wald von Luthäne unterwegs. Doch sie sind nicht allein. Jutta-Valeska Hinz, Filmproduzentin, Drehbuchautorin und Regisseurin, sowie Josi Biemelt als Kamerafrau und ein Tontechniker begleiten sie. Mehrere Tage dauern die Dreharbeiten bei widrigen Bedingungen. Regenschauer und starke Windböen beeinträchtigen die Dreharbeiten immer wieder. Dennoch macht die Arbeit im Team Spaß.

Gibt es eine Verbindung zwischen Jost und Thiele? Wenn ja, wie konnte Thiele unerkannt bleiben. Thiele lebte ab 1951 in Düsseldorf und fand eine Anstellung bei der Messe Düsseldorf. Er wohnte in der Düsseldorfer Kronprinzenstraße 63. Später wechselte er zur Kölner Messe und wurde dort sogar Abteilungsleiter.

Jost, zunächst 1948 zu lebenslanger Haft verurteilt, wurde erstaunlicherweise bereits nach drei Jahren, im Jahr 1951, aus dem Kriegsverbrechergefängnis Landsberg entlassen. Danach arbeitete Jost in Düsseldorf als Immobilienmakler. Doch diese Tätigkeit war nur eine Tarnung. Er arbeitete für den CIA. Robert Trumbull Crowley, senior Central Intelligence Agency officer, erstellte die „Crowley-List“, eine alphabetische Liste mit Namen von NS-Funktionären, die für die CIA gearbeitet hatten. Unter dem Buchstaben J stand Heinz Maria Karl Jost (Gestapo).