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Enteignung Ein Schild, das nicht vergessen lässt

Am Parkplatz „Langer Heinrich“ an der B 71 bei Wernstedt weist ein Schild auf Enteignungen von 1945 hin.

Von Doreen Schulze 19.11.2020, 00:01

Wernstedt l Passanten, die an der B 71 den Parkplatz „Langer Heinrich“ in Fahrtrichtung Salzwedel nutzen, bemerken bei ihrem Aufenthalt dort abseits vom Parkplatz ein aufgestelltes Schild. Es befindet sich am angrenzenden Waldstück und somit auf dem Grundstück der Familie Gille. Im Besitz dieser Familie, die heute in Mörse bei Wolfsburg beheimatet ist, ist dieses Waldstück erst wieder seit 22 Jahren. Zuvor wurde es, wie auch Hof und Ackerflächen, 1945 enteignet. Auf dieses Schicksal sowie auf die Eigentumsregelungen im Zuge der Wiedervereinigung verweist dieser Aufsteller.

Hermann Gille jun. ist 15 Jahre alt, als im Zuge der Bodenreform der sowjetischen Besatzungszone seine Familie in Wernstedt am 9. Oktober 1945 enteignet wird. Sämtliche Ländereien – „wir hatten 109 Hektar“, berichtet er im Volksstimme-Gespräch – und sämtliches Eigentum, also auch Geldvermögen, Mobiliar und Kleidung, werden weggenommen. „Der Hof war seit 1634 nachweislich in Familienbesitz. Das schmerzt umso mehr“, sagt Gille. Enteignet werden damals alle Grundbesitzer, die mehr als 100 Hektar Land aufweisen können.

Gille muss mit seiner Familie den Wernstedter Hof verlassen. Vorübergehend kommen sie in Kalbe unter. Entschädigt werden Gilles nicht. Sie fürchten sogar um ihr Leben. Eine Deportation wird angeordnet, zunächst in Speziallager, die meist ehemalige Konzentrationslager sind. „Wir wussten nicht, wo es hingehen soll. Es hätte ja auch Sibirien sein können“, so Gille. Der Familie gelingt die Flucht über die grüne Grenze bei Steimke. Sie erreicht die britische Besatzungszone, entkommt so der Deportation.

In Niedersachsen bauen Gilles schließlich wieder einen landwirtschaftlichen Betrieb auf. In Mörse bei Wolfsburg ist dies durch Pachtung gelungen. Dann kommt die Wende. In Vorbereitung der deutschen Wiedervereinigung 1990 hegt Hermann Gille Hoffnung, die Hofstelle, auf der er seine Kindheit verbracht hat, sowie die damals weggenommenen Ländereien wiederzubekommen. Aber es soll anders kommen. Er erhält nichts zurück.

1998 kauft Hermann Gille das Waldstück neben dem Parkplatz. Somit ist dieses Stück Land wieder im Familienbesitz. Weitere Ländereien kauft beziehungsweise pachtet die Familie. Die Ackerflächen werden von Gilles Neffen Friedrich Schulze bewirtschaftet. Aber wohlgemerkt, diese Ländereien sind entweder zurückgekauft oder gepachtet worden. Sie sind nicht rückübertragen worden. Und darauf weist das Schild am Parkplatz hin, am Rande des zurückgekauften Waldes. Es macht nicht nur auf die Enteignung 1945 aufmerksam, sondern auch darauf, was im Zuge der deutschen Wiedervereinigung geschehen ist.

Der Hof wird indirekt ein zweites Mal durch die Bundesregierung unter Führung des Bundeskanzlers Helmut Kohl „ enteignet“, wie auf dem Schild zu lesen ist. So soll Kohl damals behauptet haben, dass die Sowjetunion einer Wiedervereinigung nur zustimme, wenn es keine Rückgaben an ehemalige Besitzer gäbe. Später ist diese Behauptung durch den damaligen Staatspräsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, mehrfach öffentlich dementiert worden, was ebenfalls dort beschrieben wird. Mit einem QR-Code ist auf dem Schild ein Quellennachweis angegeben, der auf ein Youtube-Video verweist. Dieses zeigt eine Rede Gorbatschows am 1. März 1998 im Internationalen Congress Centrum Berlin (ICC), in der er klarstellt, dass es keine Bedingungen bezugnehmend auf Landrückgaben oder Entschädigungen für die deutsche Wiedervereinigung gab.

Weiter wird auf dem Aufsteller geschildert, dass die Bundesregierung durch Übernahme der enteigneten Flächen und mit den Einnahmen aus diesem Landverkauf in Milliardenhöhe die Wiedervereinigung finanziert habe. „Wie Familie Gille erging es über 11 000 weiteren landwirtschaftlichen Familien/Betrieben mit einer Gesamtfläche von zirka 3,3 Millionen Hektar“, wird abschließend auf dem Schild hingewiesen.

Ganz verwinden kann Hermann Gille diese Geschehnisse auch heute noch nicht. Der inzwischen 90-Jährige ist in den zurückliegenden Jahren schon mehrfach in Wernstedt zu Besuch gewesen, schaut sich dann die ehemalige Hofstelle an. Die Scheune der Familie, die 1935 gebaut wurde, ist übrigens mittlerweile zum Dorfgemeinschaftshaus des Ortes umgestaltet worden. Hermann Gille lebt heute in einem Seniorenpflegeheim bei Wolfsburg. Die Geschehnisse rund um die Enteignung hat er in seinem Buch „Mein Leben“ festgehalten.