1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Gardelegen
  6. >
  7. Zwei Briefe und eine Taschenuhr

Gedenkstätte Zwei Briefe und eine Taschenuhr

Zwei Tote auf dem Friedhof der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe in Gardelegen sind nicht mehr namenlos, wie die Mehrheit der Gräber.

Von Cornelia Ahlfeld 08.05.2019, 19:00

Gardelegen l „Normalerweise spreche ich frei, aber heute bin ich zu sehr aufgeregt“, räumte Agnieszka Śliwińska ein und holte ihre Notizen hervor, um dann in sehr gutem Deutsch über ihre Spurensuche zu berichten, ihre Suche nach dem Verbleib ihres Großvaters Władysław Śliwiński, der aus einer alten Warschauer Familie stammte und nun, 2019, 100 Jahre alt geworden wäre. Er starb am 11. April 1945 in Gardelegen und wurde auf dem KZ-Friedhof der Gedenkstätte begraben.

Bis vor kurzem war sein Schicksal noch unbekannt. Und das hatte die ganze Familie auch bis zum Schluss immer beschäftigt. Zwei Briefe waren es letztlich, die Agnieszka Śliwińska veranlassten, auf Spurensuche zu gehen. Nach dem Tod ihres Vaters Ende 2016 fand sie in seinem Nachlass diese Briefe von seinem Vater Władysław Śliwiński. „Diese Briefe wurden an meine Familie aus dem Konzentrationslager, wie ich damals dachte, aus dem KZ Sachsenhausen geschickt“, erzählte Śliwińska, die Politikwissenschaften, Ökonomie und Germanistik studiert hat, und so ihre Rede bei der Gedenkfeier in Gardelegen in fast perfektem Deutsch vortrug. Ihr Großvater Władysław und ihr Urgroßvater Edward seien während des Warschauer Aufstandes am 29. August 1938 verhaftet worden. Ihr Großvater war polnischer Staatsbürger, Katholik, hatte 1942 während der Besatzung Warschaus geheiratet. Ein Sohn gehörte zur Familie, der Vater der einzigen Enkelin Śliwińskis, Agnieszka Śliwińska. Der Sohn war damals bei der Verhaftung zwei Jahre alt.

Beide Männer wurden ins KZ Sachsenhausen deportiert. „Mein Urgroßvater kam 1945 aus dem Lager zurück nach Warschau, sprach nur wenig über seinen Aufenthalt im KZ und starb anderthalb Jahre später“, erzählte Śliwińska. Ihre Großmutter hätte nach dem Krieg erfolglos ihren Mann über das Rote Kreuz sowie über das polnische Radio gesucht. 1948 habe sie seine Todesakte erhalten, in der das symbolische Todesdatum Dezember 1946 stand. 1950 – als Witwe – heiratete sie noch einmal. „Sie dachte aber das ganze Leben lang bis zu ihrem Tod 2010, was mit ihrem ersten Mann passiert ist, ob er vielleicht nach der Befreiung des Lagers nicht doch in den Westen geflohen ist und sich ein neues Leben aufgebaut hat. Mein Vater lebte im Schatten dieser rhetorischen Frage bis zu seinem Lebensende 2016“, erinnerte sich die zierliche kleine Frau mit den langen, blonden Haaren. Die zwei Briefe, verschickt am 8. Oktober 1944 und am 25. Dezember 1944, waren die letzten Spuren ihres Großvaters.

Im Mai 2018 war Śliwińska in Berlin. Sie entschloss sich, die Gedenkstätte Sachsenhausen und das Archiv zu besuchen. Dort konnte festgestellt werden, dass die Briefe aus zwei KZ-Lagern verschickt wurden: der erste aus dem KZ Sachsenhausen, wo Großvater Władysław am 4. September 1944 eingeliefert wurde (Häftlingsnummer 95 828). Aus den Unterlagen ging hervor, dass er als Häftling und Zwangsarbeiter dem Germendorfer Heinkel-Werk zugewiesen worden war. „Deshalb war er auch nicht mit seinem Vater Edward im Hauptlager Sachsenhausen“, so Śliwińska. Der zweite Brief wurde aus dem KZ Neuengamme verschickt. „Dort hatte mein Opa die Häftlingsnummer 59 150 bekommen.“

Die entscheidenden Hinweise gab es dann im Archiv des International Tracing Service (ITS) Bad Arolsen. In den Unterlagen des Suchdienstes war als Todestag der 11. April 1945 in Gardelegen verzeichnet. Das Datum lasse den Schluss zu, dass Władysław Śliwiński wenigstens das Massaker in der Feldscheune erspart geblieben war.

In Bad Arolsen war Władysław Śliwiński nicht nur in den Unterlagen enthalten, sondern aufbewahrt wurde dort auch ein ganz persönlicher Gegenstand von ihm – seine Taschenuhr, die immer noch funktionsfähig ist. Ein sehr bewegender Moment für die einzige Enkelin, als sie die Taschenuhr entgegennehmen konnte – nach so vielen Jahren der Ungewissheit.

Władysław Śliwiński war vermutlich Anfang April 1945 nach Mittelbau-Dora transportiert worden, da er von dort aus auf den Todesmarsch gestartet war. „Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, ist nicht tot. Er ist nur fern. Tot ist nur, wer vergessen wird“, zitierte Agnieszka Śliwińska Immanuel Kant. Dank vieler Helfer und der Menschen in Gardelegen könne die Erinnerung an Menschen, wie ihren Großvater, erhalten werden.