1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Gardelegen
  6. >
  7. Wir hatten alle Todesangst

Lesung Wir hatten alle Todesangst

Der Gardeleger Wilfried Brickenkamp las in der Bibliothek Gardelegen aus "Kinder des Krieges" seine Kriesgerinnerungen vor.

Von Doreen Schulze 26.04.2019, 12:00

Gardelegen l Fliegeralarm in Köln gegen Ende des Zweiten Weltkrieges: Eine Zeitzeugin berichtet. Sie sitzt, wenn auch nur virtuell, im gut gefüllten Besucherraum der Gardelegener Bibliothek. Auf der Leinwand sehen die Zuschauer sich selbst per Einspielung. Und plötzlich erscheint auf dieser Leinwand zwischen ihnen die Zeitzeugin. Über ihr und den Köpfen der Zuhörer donnern schwarze Flieger hinweg. Das Brummen der Flieger und das Pfeifen der herabstürzenden Bomben ist zu vernehmen. Bei all dem erzählt die Frau, wie sie damals in Köln den Bombenangriff als junges Mädchen erlebt hat. Bis Mai 1945 gab es 262 Bombenangriffe auf Köln.

„Es war die Hölle. Es war zwar erst Nachmittag, aber es war wie stockdunkle Nacht. Und dann die heiße Luft im Hals. Es war grauenhaft. Und der Funkenflug sah aus wie Schneeflockenfall“, berichtet sie. Schließlich erreichen sie den Schutzbunker, warten dort den Angriff ab. „Wir hatten alle Todesangst, aber wir weinten nicht. Auch mein kleiner Bruder weinte nicht. Er war noch so klein, konnte kaum sprechen. Als wir wieder hinausgingen und die zerstörte Stadt sahen, sagte er nur ‚putt‘. Ja, alles war kaputt.“

Eine weitere Zeitzeugin kommt hinzu, berichtet von einer Bombennacht in London. „Es ist das Geräusch der Bomben, das ich nie vergessen werde“, sagt sie. Ihr Vater, der im Zivilschutz Ausgebombten und Verletzten hilft, wird getroffen, stirbt an dieser Verletzung. Der Mutter bleibt keine Zeit zur Trauer. Als sie mitbekommt, dass Hilfe gebaucht wird, ist sie da. „Wir haben geholfen, weil wir gebraucht wurden. Das war die Haltung unserer Mama.“

Still ist es in den Publikumsreihen in der Bibliothek. Betroffen lauschen die Besucher den Zeitzeugenberichten. Anschließend lesen Rainer Wulff und Konrad Fuchs vom Förderverein der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Ausschnitte aus dem Roman „Stalingrad“ von Theodor Plievier und aus „Stalingrad“ von Viktor Nekrassow vor.

Schließlich schildert der Gardelegener Wilfried Brickenkamp seine Kriegserlebnisse. Der 92-Jährige hat sie im Buch „Kinder des Krieges“ festgehalten. Dort sind weitere biografische Aufzeichnungen aus der Ukraine und Deutschland, berichtet von 29 Frauen und Männern aus der Ukraine und Deutschland, enthalten. Es war der 17. Oktober 1943, einen Tag nach Brickenkamps 17. Geburtstag, als seine Muter ihm wortlos einen Brief auf den Tisch legte, schildert er. „Es traf uns alle wie ein Schlag“, erinnert er sich. Es war der Stellungsbefehl. In Dänemark ausgebildet, geht er „in den Reißwolf des Krieges“. Brickenkamp kommt an die Ostfront. Als er und seine Kameraden im Juli 1944 eine Panzerkolonne bemerken, verstecken sie sich im Kornfeld, bemerken aber nicht, dass sie umzingelt wurden. Sie werden sowjetische Kriegsgefangene. „Angst überkam mich, hatte man uns doch oft gesagt, der Russe macht keine Gefangenen“. Das erste jedoch, was ein sowjetischer Soldat, der etwas Deutsch konnte, zu ihnen sagt, war, dass sie Kartoffeln bekommen. Die Angst bleibt. Hass schlägt dem jungen Kriegsgefangenen entgegen, als er mit den Mitgefangenen durch eine völlig zerstörte Stadt zieht, erst später weiß er, dass es Kiew war. „Dem Grauen des Krieges waren wir entkommen, aber der Kampf ums Überleben ging weiter“, berichtet Brickenkamp vom Hunger.

1949 kann er endlich in die Heimat zurückkehren. „Meine Schwester Helga war, als ich fortging, 12 Jahre alt“, erzählt Brickenkamp. Sechs Jahre später erkennt er die junge Frau kaum wieder. Aus dem Gefangenenlager bringt er Abschiedsgrüße von Sascha, einem Arbeiter, mit dem er sich angefreundet hat, mit. „Den trage ich noch heute bei mir“, sagt Brickenkamp und zeigt den Brief den Zuschauern. Darin steht: „Willi, kehr zurück und zieh in Frieden. Nimm ihn mit in euer Land. Einen Gruß an die Mama, reich dem Vater meine Hand. Lasst in Frieden die Blumen blühn. Bewahrt euch der Berge Pracht in Grün.“

„Aus der reinen Erinnerungsperspektive muss eine Erkenntnisperspektive werden“, betont Hans-Joachim Becker, Kreisvorsitzender des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Die junge Generation sei mit einzubeziehen. Sie müsse verstehen, dass Veränderungen schleichend kommen. „Das Gedenken darf nicht zu einem rituellen Akt verkommen.“ Erinnern und Gedenken seien wichtig, es dürfe aber nicht zur Glorifizierung von „gefallenen Helden“ instrumentalisiert werden, macht Becker zum Abschluss der Veranstaltung deutlich.

Das Buch „Kinder des Krieges“ ist über die Landeszentrale für politische Bildung erhältlich. Alle Texte darin sind in deutscher und russischer Sprache abgedruckt. Einer der Autoren ist Wilfried Brickenkamp.