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Reborn-Puppen Mutterglück aus Silikon

Dieses Baby wirkt täuschend echt, ist es aber nicht. Es ist eine Reborn-Puppe. Eine Frau aus der Altmark erzählt von ihrem Hobby.

20.04.2020, 10:10

Altmarkkreis l Die Täuschung ist perfekt. Auf den ersten Blick sieht sie aus wie ein echtes Neugeborenes. Auf den zweiten auch. Weiche Wimpern, Stupsnase, ein bisschen Sabber im Mundwinkel, energisch gerunzelte Stirn. Sogar kleine blaue Adern scheinen durch die weiche Haut der kleinen Anna ...

Anna heißt sie allerdings nur in diesem Artikel. Und auch der Name ihrer „Mama“ ist geändert. Nennen wir sie Magdalena.

Sie will anonym bleiben. Denn nicht jeder versteht ihr neues Hobby. Dennoch will sie der Volksstimme gern davon erzählen, will eine Lanze brechen für sich und viele andere Frauen, die diese sogenannten Reborn-Babys für sich entdeckt haben, die sie lieb haben, die mit ihnen kuscheln, mit ihnen reden, die ihnen „einfach gut tun“. Abends beim Fernsehen nimmt sie ihre Anna am liebsten auf den Arm, erzählt Magdalena. „Es fühlt sich an, als ob man ein echtes Baby hält. Es ist einfach schön.“

Magdalena ist verheiratet, Mitte 30 und eine waschechte Altmärkerin. Und auch eine waschechte Mama. Drei Söhne hat sie. Der Älteste ist schon im Teenageralter, der Jüngste geht noch in den Kindergarten. Und nun ist eben noch die kleine Anna dazugekommen. Ein Mädchen.

„Ich hab’ mir immer eins gewünscht“, sagt Magdalena. Nicht, dass sie ihre Jungs nicht lieb hat. „Meine Söhne sind toll.“ Sie ist sehr stolz auf die drei. „Nur wäre ein Mädchen eben auch ganz schön gewesen. Ich hätte so gern mal Mädchensachen gekauft.“

Und das kann sie nun: winzige Kleidchen, Röckchen, pinkfarbene Söckchen, eine kleine rosa Cordhose, alles in Größe 50. Denn ihre Anna ist 48 Zentimeter groß und wiegt 2800 Gramm. Das zumindest steht in ihrer „Geburtsurkunde“. So ein Schriftstück bekommt jede Reborn-Mama dazu, wenn sie sich ihr „Baby“ bestellt.

Die Auswahl ist groß. Die Preisspanne auch. Von knapp 100 bis zu mehreren Tausend Euro kann so ein Puppenkind kosten. Es gibt welche von der Stange, sogenannte Bausätze für Reborns, andere sind ganz individuell gestaltet. Man kann auch Puppen kaufen, die Babys von Prominenten nachempfunden sind, sich sogar nach einem Foto eine Reborn-Puppe gestalten lassen.

Eine ganze Branche hat sich weltweit darauf spezialisiert. Magdalena hat ihre Anna bei einer bekannten deutschen „Rebornerin“ bestellt. So nennen sich die Herstellerinnen der Puppenkinder. Fast alle sind Frauen. Jede hat ihren eigenen, individuellen Stil.

Denn die Reborn-Mamas haben schließlich auch ganz individuelle Wünsche. Man könne so gut wie jedes Detail bestimmen, wenn man sich eine Puppe bestellt, versichert Magdalena. Natürlich ist das auch eine Preisfrage. Aber die wichtigsten Kriterien sind immer wählbar: Junge oder Mädchen, geöffnete Händchen – mit nahezu perfekten Fingernägelchen – oder kleine Fäuste. Die Haarfarbe kann man bestimmen, wenn Haare gewünscht sind, oder die Augenfarbe bei offenen Augen. „Das fand ich aber nicht so gut“, sagt Magdalena. „Ich weiß nicht, ob sie mit offenen Augen noch so echt wirken würde.“

Und sie wirkt echt. Vielleicht noch mehr, wenn man sie hochhebt. Bei Annas Gewicht von knapp drei Kilo hat man wirklich den Eindruck, dass man ein echtes Kind im Arm hat. „Die Puppen sind gewichtet“, klärt Magdalena auf. Ein Gemisch aus Füllwatte und einem Granulat ist so verteilt wie das Gewicht bei einem echten Kind. „Sogar das Köpfchen muss man stützen, wenn man sie hochnimmt.“

Apropos Köpfchen: Haare hat die kleine Anna auch. Ganz weiche. „Das ist Mohairwolle“, sagt Magdalena. Die könne man sogar waschen und kämmen. Denn die Haare sind gerootet, also eingestochen. Ebenso wie Annas feine Wimpern. Bei manchen Reborns sind sogar die Augenbrauen gerootet. Und auch die Haut fühlt sich verblüffend echt an. Verwendet werden Vinyl oder Silikon, erklärt Magdalena. „Und es gibt sogar ein Parfum, das die Puppenkinder riechen lässt wie Babys ...“

Und dann lacht sie. „Ja ich weiß, dass das verrückt klingt“, sagt Magdalena. „Aber ich weiß natürlich trotzdem, dass sie eine Puppe ist.“ Und alle anderen Frauen, die sich so ein Reborn-Baby bestellen, wüssten das garantiert auch. Und dennoch müssten sich viele auslachen und manche sogar beschimpfen lassen. „Aber warum?“

Auch in ihrem Umfeld stößt die junge Mutter zunächst auf Skepsis, als sie erzählt, dass sie im Internet auf die Reborn– Puppen aufmerksam geworden ist und sich nun auch eine bestellen will. „Blödsinn!“, „Geldverschwendung!“, „Sag mal, wie alt bist du eigentlich?“, sind noch die harmlosesten Reaktionen. Auch ihr Mann, ein gestandener Handwerker und Praktiker mit Leib und Seele, schüttelt verständnislos den Kopf. Vor allem als er hört, was so ein Püppchen kostet.

„Aber er hat schließlich auch Hobbys“, sagt Magdalena. Die seien auch nicht eben billig. Das sei ihm dann wohl auch eingefallen. Denn nach kurzer Überlegung sagt ihr Mann einen Satz, über den sie sich sehr freut: „Weißt du“, meint er, „wenn es dich glücklich macht, dann mach es.“

Und als die kleine Anna samt Babyschale, Stubenwagen und einem hauptsächlich rosafarbenen Kleidersortiment bei ihnen einzieht, wirft er auch mal einen amüsierten, aber nicht unfreundlichen Blick auf das Puppenkind und einen liebevollen auf seine Frau, weil die sich so freut. „Und genau darum geht es doch“, betont Magdalena im Gespräch mit der Volksstimme nachdrücklich. „Uns machen diese Babys einfach Freude.“

„Uns“, sagt sie. Denn dass sie damit nicht allein ist, weiß sie längst. Zahllose Chatgruppen gibt es im Internet, in denen sich Reborn-Eltern – ja, auch Männer sind darunter – austauschen. Es finden sich Blogs mit Videos über die „Ankunft“ der Puppen, in denen die Besitzerinnen filmen, wie sie ihr „Baby“ in Empfang nehmen, sogenannte Boxopenings. Es gibt einen sehr regen Austausch über das Leben mit Reborn-Babys, Tauschbörsen für Kleidung und vieles mehr. Auch Magdalena steht über eine WhatsApp-Gruppe in Kontakt mit anderen Reborn-Mamas.

Und die hat sie vor ihrem Gespräch mit der Volksstimme einfach mal gefragt, was sie so an ihren Puppenkindern lieben. „Ich hab ihnen erzählt, dass ich unsere Beweggründe schildern will“, sagt Magdalena. Und einige haben ihr geantwortet. Auch wenn eine gesagt habe, „sie würde nicht mit der Presse reden, weil die immer alles so hindrehen, wie sie es wollen.“

Doch Magdalena will aufklären. Und auch andere Frauen in der Gruppe gehen ganz locker damit um: Ihr Reborn-Baby tue ihr „einfach gut“, sagt zum Beispiel eine Puppenmutti im Chat. „Wenn ich down bin, wenn es stressig zugeht, hilft es mir.“ Auch ihr Mann finde es „okay“, wenn sie mit dem Püppchen kuschelt. „Meine Tochter ist begeistert. Nur mein Sohn und meine Schwiegermutter sagen, ich hab 'nen Knall.“

Eine weitere hat sich ihr Reborn-Baby nach einer Fehlgeburt gekauft. „Ich kam nicht klar, keine Kinder mehr zu bekommen ... bis mein kleiner Schatz zu mir kam. Er hat mir geholfen, das alles zu verkraften“, versichert sie. „Ich habe gemerkt, dass ich abends schlecht zur Ruhe komme“, schreibt eine dritte Chatpartnerin. Das Schmusen mit dem Puppenkind beruhige sie, „und diese Ruhe strahle ich dann auch aus“.

Und eine vierte Online-Freundin findet es „richtig gut, dass immer mehr Menschen wissen, dass wir nicht krank sind“. Sie sei neulich erst mit ihrem Rebornbaby spazieren gefahren, erzählt sie Magdalena. „Eine alte Dame hat in den Wagen geschaut und gemeint: Es ist ja noch ganz frisch. Und als ich ihr gesagt habe, dass das nur eine Puppe ist, hat sie mir einfach viel Spaß mit meinem Hobby gewünscht.“

Und genau das sei es doch auch nur, sagt Magdalena. „Es ist ein Hobby, das uns Freunde macht. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“ Wenn Männer mit kleinen Autos oder Eisenbahnen spielten, sich teure Technik zulegten, dann sei das allgemein akzeptiert. Warum, fragt Magdalena, gelte das nicht einfach auch für die Reborn-Puppen? Ein Satz auf der Internetseite einer Rebornerin hat ihr besonders gut gefallen: „Manchmal nehmen die kleinsten Dinge den größten Platz in unseren Herzen ein“, hat sie da gelesen.

Der größte Platz in ihrem Herzen gehöre zwar ihrer Familie, versichert Magdalena, der gehört ihrem Mann, den drei Söhnen. Ein kleines Plätzchen sei aber, seit sie da ist, auch für ihre Anna reserviert. „Und ich glaube auch nicht, dass ich mich dafür schämen muss.“