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Kindheitserinnerung an Gardelegen / Gedenktafel erinnert an Julius und Zerlina Hesse "Wir haben früher oft im Hopfen gespielt"

Von Cornelia Ahlfeld 30.06.2012, 05:21

Ein bewegendes Familienschicksal und doch typisch unter Hitlers Nazi-Regime: Enteignung, Flucht, Deportation und Tod. Millionen jüdischer Menschen mussten unfassbares Leid ertragen. Dazu gehörte auch Familie Hesse aus Gardelegen. Enkel Frank Hesse, heute 83 Jahre alt, war mit seiner Familie zu Besuch in Gardelegen.

Gardelegen l Dunkle Augen und dunkles Haar, das langsam grau wird, ein wacher Blick und überaus interessiert an der Entwicklung der Stadt Gardelegen: Dr. Frank Hesse, heute 83 Jahre alt, kehrte mit seiner Familie zu seinen Wurzeln zurück.

Anlass seines Besuches waren zwei Altlastensanierungsprojekte, die im Rahmen einer Informationsveranstaltung mit Landwirtschafts- und Umweltminister Hermann Onko Aeikens vorgestellt wurden. Zum einen handelt es sich um das einstige Gaswerk an der Bahnhofstraße und zum anderen um die Hopfendarre. Die befand sich einst im Besitz der Familie Hesse. Die Nachkommen verkauften das Grundstück an eine Sanierungsgesellschaft, die noch in diesem Jahr mit der Altlastenentsorgung beginnen wird, denn auf dem Grundstück befand sich zu DDR-Zeiten eine Wäscherei mit chemischer Reinigung.

Mit dem Grundstücksverkauf verbunden hatte Familie Hesse nur einen Wunsch: Sie wollten eine Gedenktafel auf dem Grundstück setzen, um an Julius und Zerlina Hesse, die Großeltern Frank Hesses, und an Lina Riess, die mit im Haus lebte, erinnern zu können. Während Lina Riess 1942 in Gardelegen starb, kamen Julius und Zerlina Hesse im KZ Theresienstadt ums Leben.

Die Gedenktafel wurde am Donnerstagnachmittag enthüllt (wir berichteten gestern).

Frank Hesse war stolz darauf, endlich wieder einmal Deutsch sprechen zu können. In seiner Heimat in New Mexiko könne das niemand.

1929 erblickte Frank Hesse in Stendal das Licht der Welt. Sein Vater, Hans Hesse, war Arzt und hatte in Gardelegen eine Praxis. 1930 zog die Familie nach Döbern, 1933 in die Lausitz. Dort blieb sie bis zur Reichskristallnacht am 9. November 1938. Die Familie ging nach Berlin. "Wir hatten Glück. Wir hatten Verwandte in Amerika, die uns die Papiere besorgt hatten", erzählte Frank Hesse. Im März 1939 konnte Familie Hesse das Land verlassen. Sein Vater hatte dann wieder eine Praxis in New York.

Weitaus schwieriger habe es da sein Onkel Robert Hesse gehabt. Der Bruder seines Vaters gehörte zu den über 900 Juden, die auf dem Kreuzfahrtsschiff St. Louis am 13. Mai 1939 von Hamburg aus Richtung Amerika fuhren. Die traurige Geschichte ist bekannt. Sowohl Kuba, als auch Kanada und die USA verweigerten den Flüchtlingen die Einreise. Das Schiff musste umkehren. Robert Hesse gelang es über mehrere Stationen in Frankreich und Belgien nach England zu kommen. "Dort aber war er als Deutscher ein Kriegsgefangener", erzählte Frank Hesse. Er kam später nach Kanada. Dort starb er 1950.

Zurück in Gardelegen blieben die Großeltern Julius und Zerlina Hesse. Bis 1935 durften sie ihr Geschäft, das 1867 als Julius Riess Hopfenhändler gegründet wurde, führen. 1940 mussten sie ihr Hab und Gut verkaufen. Als neuer Wohnort wurde den Großeltern die Blausche Villa (Ghettohaus) am Ipser Weg zugewiesen. Dort lebten sie bis 1942 gemeinsam mit anderen jüdischen Familien. Es folgte im Dezember 1942 die Deportation ins KZ Theresienstadt. Das überlebten die Senioren nur kurze Zeit. Julius Hesse starb dort im Januar 1943, seine Frau Zerlina folgte ihm einen Monat später. Jahrelange Bemühungen, auch die Großeltern nach Amerika zu holen, waren gescheitert.

Viele Jahre sind seitdem vergangen. Frank Hesse studierte Medizin und war noch bis vor zehn Jahren als Chirurg tätig. Einer seiner Söhne, Teva Hesse, lebt heute in London. Beruflich arbeitet er als Architekt.

An Gardelegen kann sich Frank Hesse noch sehr gut erinnern. Bis zur Auswanderung hat er jeden Sommer bei den Großeltern in Gardelegen verbracht. "Wir haben ganz oft im Hopfen gespielt", erinnerte sich Frank Hesse. Seine Großeltern waren übrigens mit einer ganz bekannten Gardeleger Familie eng befreundet, mit dem jüdischen Arztehepaar Gertrud und Walther Sonnenfeldt. Der Sohn des Paares, Richard Sonnenfeldt, war später durch seine Tätigkeit als Chefdolmetscher bei den Nürnberger Prozessen bekannt geworden.

Die Hopfendarre wurde 1945 ins Volkseigentum übertragen. Dort befand sich dann der VEB Wäscherei und chemische Reinigung. 1997 folgte die Rückübertragung an die Alteigentümer. 2002 brannten große Teile der alten Gebäude ab. Im Januar dieses Jahres übernahm die Mitteldeutsche Sanierungs- und Entsorgungsgesellschaft mbH das Grundstück.

An das Schicksal der Alteigentümer erinnert seit Donnerstag eine Gedenktafel, die an einem großen Findling angebracht ist.