Samswegerin fand den Bruder ihrer Mutter in Genthin / Geschwister waren 70 Jahre getrennt Evelyn Kasper gelingt ein Wunder: Sie findet ihren Onkel, der als verschollen galt
Manchmal gibt es Wunder. Margarete Mitschele und Karl-Heinz Woelk erlebten eines. Nach 70 Jahren trafen sich die Geschwister wieder. Die ganze Zeit über hatten sie sich tot geglaubt. Die Samswegerin Evelyn Kasper hatte dem Glück auf die Sprünge geholfen.
Genthin/Samswegen l Evelyn Kasper feiert in ihrem Haus in Samswegen Geburtstag. Ihre Mutter ist da. Wie immer. Doch diesmal ist auch der Bruder ihrer Mutter gekommen, Karl-Heinz Woelk, von dem Evelyn Kasper bis vor kurzem gar nicht wusste, dass es ihn gibt.
Dabei lebt Karl-Heinz Woelk ganz in der Nähe, in Genthin. "Es ist wie im Märchen", sagt der 89-Jährige und hält unterm Tisch die Hand seiner 87-jährigen Schwester. "Ohne die Evy hätten wir uns niemals wieder gefunden", sagt Margarete und streichelt den Bruderarm.
Bruder und Schwester haben sich seit 70 Jahren nicht mehr gesehen, seit 60 Jahren nicht mehr nacheinander gesucht. Jeder dachte vom anderen, er wäre tot.
Margarete Mitscheles Tochter Evelyn war diejenige, die die Suche wieder aufgenommen hatte.
Bruder und Schwester sahen sich 1942 das letzte Mal
"Meine Mutter war im vergangenen Jahr sehr krank und mochte nicht mehr leben", erzählt Evelyn Kasper. "Ich saß bei ihr und habe sie nach ihrer Kindheit gefragt." Erst da erzählte sie von ihrem Bruder, den sie 1942 das letzte Mal gesehen hatte. Karl-Heinz war 19 und Soldat im Heimaturlaub, Margarete war 17. Er musste wieder in den Krieg ziehen, das letzte Lebenszeichen von ihm kam 1944. "Er hatte geheiratet und ein Foto von dieser Hochzeit geschickt", sagt Margarete Mitschele. Sie selbst durfte wegen der Kriegswirren nicht zur Trauung fahren.
Danach verlor sich die Spur der Geschwister. "Ich habe nach dem Krieg über Suchstellen nach ihm gesucht", erzählt Margarete Mitschele, "aber er galt als verschollen."
Das Geschwisterpaar stammt aus Westpreußen. In dieser Gegend war nach dem Krieg nichts mehr wie vorher, und darum gab es keine Heimatadresse mehr, die Suche war aussichtslos.
Margarete ging in den Westen, heiratete, hieß dann nicht mehr Woelk, sondern Mitschele, bekam zwei Kinder. Karl Heinz Woelk war am 8. April 1945 in Gefangenschaft geraten, wurde in den Kaukasus gebracht. 1949 kam er frei und ging nach Halle zu seiner Frau, die ihm eine Tochter geboren hatte - Heidrun. "Ich habe nach meinen Eltern und meiner Schwester gesucht", sagt er, "aber mir wurde gesagt, sie seien tot." Seine kleine Familie zog nach Genthin. Beinahe hätten er und seine Schwester sich wirklich nie wieder gesehen, aber als Evelyn Kasper ihre Mutter so krank und so lebensmüde sah, wollte sie es genau wissen und wendete sich an das Deutsche Rote Kreuz. "Vor vier Jahren wurden Kriegsgefangenenakten von Moskau an das DRK übergeben", erzählt Evelyn Kasper, "und die Akte meines Onkels war dabei."
Beim ersten Treffen in Genthin gab es viele Tränen
Das Deutsche Rote Kreuz fand die Adresse von Karl-Heinz Woelk und als Evelyn Kasper erfuhr, dass der Onkel ganz in der Nähe, in Genthin, lebt, klopfte ihr Herz immer schneller. Ihrer Mutter verriet sie nichts. "Ich wusste ja gar nicht, ob er überhaupt mit ihr sprechen will", begründet Evelyn Kasper die Zurückhaltung. Also tastete sie sich langsam an den Onkel heran. "Ich rief in Genthin an und stammelte auf den Anrufbeantworter." Dieses Stammeln wurde nicht gelöscht, sondern auf der Geburtstagsfeier vor allen Gästen abgespielt. Ja..., also..., meine Mutter heißt Margarete, geborene Woelk..., und wahrscheinlich sind Sie ihr Bruder... und wenn Sie mit ihr sprechen möchten..., ja also...", und so weiter. Was soll man schon sagen, um zwei Geschwister nach 70 Jahren wieder zusammenzubringen?
Karl-Heinz Woelk hat den Anruf nicht abgehört, sondern seine Tochter Heidrun, die mit ihm im Haus wohnt. "Ich musste erst einmal drüber schlafen", sagt Heidrun Güldner. Dann habe ich meinen Vater gefragt, ob er eine Schwester hat, die Margarete heißt." Er hatte. "Und dann habe ich vorsichtig gefragt, was er tun würde, wenn seine Schwester am Telefon wäre." Er sagte: "Ich würde mit ihr sprechen." Heidrun Güldner sorgte sich sehr wegen der möglichen Aufregung, schließlich ist der 89-Jährige nicht mehr gesund. Sie fragte noch einmal und Karl-Heinz Woelk antwortete wieder: "Na, mit ihr sprechen."
Evelyn Kasper war mit ihrer Mutter ähnlich behutsam. Sie schrieb auf die Karte zum Muttertag: "Ich habe eine Überraschung für dich." Mehr wollte sie nicht verraten, schließlich war alles in der Schwebe, viel zu vage, um große Hoffnungen zu schüren, die vielleicht enttäuscht werden könnten.
Evelyn Kasper nahm sich fest vor, geduldig auf den Rückruf aus Genthin zu warten, aber nach zwei Tagen riss der Geduldsfaden. Sie nahm wieder den Hörer in die Hand. Diesmal war kein Anrufbeantworter dran, sondern ihre Cousine Heidrun, von deren Existenz sie bis dahin auch noch nichts wusste. Die Töchter machten sich miteinander bekannt und dann überließ Evelyn ihrer Mutter und Heidrun ihrem Vater den Hörer. Karl-Heinz Woelks erster Satz war ganz schlicht: "Hallo Gretchen."
Dann ging alles ganz schnell. Karl-Heinz und Margarete mussten sich sehen. Am 19. Juni vergangenen Jahres setzte sich Margarete Mitschele mit ihren Kindern ins Auto und fuhr nach Genthin. "Er saß schon vor seinem Haus auf der Bank und hat gewartet", sagt Margarete Mitschele. Was dann kam, waren vor allem Tränen. "Wir haben geheult", sagen beide und halten sich noch ein bisschen fester an den beinahe 90-jährigen Händen.
Viel gemeinsames Leben hatten die beiden nicht, aber die letzte gemeinsame Zeit in der Kindheit hatte sie eng zusammen geschweißt. "Unser Vater war im Krieg, die Mutter ist 1940 gestorben", sagt Margarete Mitschele, "Karl-Heinz war eigentlich der Haushaltsvorstand." Aber er war im Krieg und auch nicht mehr da.
Manchmal waren sie ganz nah, ohne voneinander zu wissen
Margarete Mitschele lebt noch immer in Pforzheim, ist nur manchmal in Samswegen. "Aber in Genthin war ich auch schon", sagt sie, "immer dann, wenn meine Enkel dort bei Judowettkämpfen waren." Überhaupt haben sich ihre Lebenswege manchmal gekreuzt, ohne, dass sie es wussten. Sie haben beide Stationen in Dresden oder Pforzheim hinter sich, nicht immer zur selben Zeit, aber im Rückblick scheint es, als hätte einer den anderen an einem unsichbaren Gummiband mit durchs Leben gezogen.
Und nun? "Wir telefonieren ab und an", sagen die Geschwister. "Es wäre so schön gewesen, wenn wir uns regelmäßig besucht hätten", sagt Margarete Mitschele, "wenn wir immer gewusst hätten, was der andere macht." Karl-Heinz Woelk schaut seine "kleine" Schwester liebevoll an. "Ja, es wäre schön gewesen", sagt er, "nun fehlt uns das ganze Leben dazwischen."