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Organtransplantation Lieber Zeit- als Umsatzmillionär

Hygiene-Regeln sind für den Genthiner Christian Greuel Alltag. Als Transplantierter lebt er schon immer mit Mundschutz.

Von Susanne Christmann 27.02.2021, 07:00

Genthin l Fast alle, die Christian Greuel kennen, erleben ihn als stets vor Ideen sprühenden Menschen. Immer in Bewegung, immer ein neues Projekt im Kopf, voller Tatendrang. Was kaum jemand sieht, ist, wie erschöpft der 51-Jährige tagsüber manchmal auf dem Sofa liegen (muss), weil er nicht mehr kann. Nicht ohne Grund hat der Werbegrafiker den Status eines Invalidenrentners, weil er tatsächlich nicht mehr als zwei Stunden am Stück und am Tag (s)einer Arbeit nachgehen kann.

Diese kann er daheim ausüben, weil seine Frau Babette die Firma „Total Werbung“ so managt, dass er trotz aller gesundheitlicher Einschränkungen an Werbeflyern, T-Shirt-Druck-Vorlagen oder Folien für die Beschriftung von Fahrzeugen arbeiten kann. Auf eng bemessene Fertigstellungstermine und überpünktliche Einhaltung von Abgabefristen pocht aber bei Christian Greuel keiner. Wofür er sehr dankbar ist, weil auch dies ihm ermöglicht, sein Leben, so wie er es sich vorstellt, leben zu können. Ohnehin erledigt er alles, nicht nur die Arbeit, möglichst ohne Zeitverlust und verlangt das auch von anderen. Denn „Zeitdiebe kann ich mir nicht erlauben“.

Was er damit sagen will, ist, dass er, solange der denken kann, nie wusste, wie lange er noch zu leben hat und er deshalb stets mit dem Schlimmsten rechnete. Das Aufschieben von Plänen, Projekten, Ideen und Wünschen kam für ihn als Option daher zu keiner Zeit in Frage. Die Einschränkungen, die die Corona-Pandemie mit sich bringt, werfen ihn deshalb nicht aus der Bahn. Maske tragen, Abstand halten, Menschenmassen und Infektionsquellen meiden – damit ist er aufgewachsen. „Ich kenne es einfach nicht anders“, sagt er. Dass er jetzt als Hochrisiko-Patient als einer der ersten geimpft wurde, gibt ihm zusätzliche Sicherheit.

Gesundheitlich stand Christian Greuels Leben fast von Geburt an unter keinem günstigen Stern. Kaum ein Jahr alt, fielen seiner Mutter seine ständige Müdigkeit und Fieberattacken auf. Als zweijähriger kam nach einer Blasen-Nieren-Operation ans Tageslicht, dass ihm nicht nur eine zweite Niere fehlte, sondern die eine verbliebene Niere auch noch eine Zystenniere war.

Wohl ein Jahr lang habe er nach einer Operation an dieser Niere im Krankenhaus gelegen, erinnert sich Christian Greuel, weil sich seine Werte einfach nicht bessern wollten. Dass er dann trotzdem zur Schule gehen und später das Abitur ablegen konnte, sei möglich gewesen, weil „sich viele, viele Leute immer sehr um mich gekümmert haben“ – Ärzte, seine Mutter, sein Vater, seine Schwester, Freunde, später seine Frau Babette. Eigentlich, ist er überzeugt, sei er nur deshalb heute noch am Leben.

Er wusste nach dem Abitur, dass für ihn weder sein Traumberuf Pilot, noch sein Traumstudium Kernphysik „drin“ waren. Aber studieren wollte er unbedingt. Auch, als ihm als 19-Jähriger gesagt wurde „Watt, Du willst studieren? Mach Dir mal besser keine Illusionen!“ ließ er sich nicht beirren und begann nach einem Praktikumsjahr im Waschmittelwerk Genthin in Magdeburg Maschinenbau zu studieren. Gesundheitlich ging es ihm aber immer schlechter. Noch zum Ende der DDR-Zeit, 1989, wurde er bei Euro-Transplant auf die Liste jener gesetzt, die eine Spenderniere bekommen (müssen).

Der Anruf „Die Niere ist da!“ erreichte ihn am 17. Februar 1991, als er gerade wieder einmal bei seiner Schwester war, um sich auszuruhen. Nebel, Eis und Wind verhinderten, dass der Hubschrauber fliegen konnte. Irgendwie gelang es, Christian mit dem Bulli nach Rostock zu bringen. Abends in der Dunkelheit sind sie angekommen, noch in der Nacht wurde Christian die Niere eines Spenders transplantiert. Eine sehr große Niere, wie er weiß, und die eines Motorradfahrers. Mit der er, dreißig Jahre später, immer noch ohne Dialyse leben kann – ein wahres Wunder. Und: „Ich sorge seit 30 Jahren dafür, dass ein Teil von ihm in mir bis heute weiterlebt“.

Als Greuel nach der Transplantation aufwacht, steht sein Stern-Rekorder auf dem Nachttisch, aus dem das Lied „All Together Now“ von The Farm dudelt. Nur besser als vor der Transplantation geht es Christian Greuel zunächst nicht. Eine schwere Infektion nach der Transplantation bedroht seine Leben. Erst, als er das erste Mal wieder Heißhunger hat und innerhalb von drei Monaten 20 Kilo zunimmt, weiß er, dass er es für diesmal geschafft hat. Als 21-Jähriger beginnt er, sich Zeit-Ziele zu setzen. Er will unbedingt die Jahrtausendwende miterleben. Er versucht, weiter zu studieren, aber die Leistungsfähigkeit dafür ist einfach nicht da – er braucht sehr viel Schlaf und viele Erholungspausen.

Dann lernt er seine Frau Babette kennen. Sie lässt sich von „Ich kann Dir keine Zukunft versprechen, keine finanzielle Sicherheit geben, keine Familie, weil ich nicht weiß, wie lange ich noch lebe“ nicht abschrecken und trägt seitdem sein Schicksal mit. Er legt sich einen High-Tech-Computer zu. Damit bauen er und seine Frau die Firma „Total Werbung“ auf. Greuel baut daneben ein deutschlandweites Netzwerk von Grafikdesignern mit auf. Irgendwann können seine Frau und er Rechnungen von dem Geld bezahlen, dass durch die Abarbeitung der Aufträge hereinkommt. Trotzdem sei er lieber Zeit-, als Umsatzmillionär. Denn dass er vom Leben doch noch so viele Jahre geschenkt bekommen hat, sei ein Glück, das durch nichts aufzuwiegen sei.

Die Jahrtausendwende erlebt er und danach mit einer Frau noch viele Reisen. Ein Freund mit Flugzeug ist zur Stelle, wenn er sagt: „Mensch Peter, los komm, flieg mich mal auf die Insel Rügen“. Alle nehmen es mit Humor, als er sich einen blau gefärbten Irokesen-Schnitt zulegt. Mit einem Teleskop beobachten er und ein Nachbar auf dem Dach ihres Hauses gemeinsam die Sterne am Nachthimmel, mit einer Fotodrohne nimmt Christian Greuel Fotos aus der Vogelperspektive auf. Das einzige, was ihm wirklich fehle, bekennt er, sind eigene Kinder. Woher hätte er damals aber auch wissen sollen, dass er ihr Aufwachsen entgegen aller Prognosen doch hätte als verantwortungsvoller Vater begleiten können?