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Nico Lehmann aus Lübs absolviert in der 18-Millionen-Einwohner-Metropole ein Praktikum Von schlafenden Chinesen und unbekanntem Essen - Grüße aus Shanghai

26.10.2011, 04:24

Seit dem 22. Juli hat Nico Lehmann eine Adresse in Shanghais Stadtteil Jiading. In der chinesischen Metropole absolviert der angehende Wirtschaftsingenieur aus Lübs ein Praktikum. Er taucht in eine fremde Welt ein, wie Volksstimme-Redakteur Marco Papritz erfahren hat.

Volksstimme: Die Hälfte der Zeit ist um. Wie haben Sie sich eingelebt in Shanghai, Herr Lehmann?

Nico Lehmann: Es vergeht kein Tag, an dem nichts Ungewöhnliches passiert, nichts typisch Chinesisches. China ist einfach zu viel anders, um sich an alles gewöhnen zu können. Mit den ungewöhnlich, aber angenehmen Dingen, wie dem leckeren frischen Essen oder den vielen günstigen Shoppingmöglichkeiten, habe ich mich schnell arrangiert.

Volksstimme: Was machen Ihre sprachlichen Fortschritte? Haben Sie schon einmal auf chinesisch geträumt?

Nico Lehmann: Nein, davon bin ich sehr weit entfernt. Es kommt jeden Tag eine Redewendung oder neue Wörter dazu, aber die chinesische Sprache ist sehr schwer zu erlernen. Ich werde nicht verhungern oder verdursten und kann auch das Taxi manövrieren, aber für viel mehr reicht es noch nicht. Mit meinen Kollegen spreche ich zum größten Teil Englisch.

Volksstimme: Wie empfinden Sie das Leben in Shanghai? Woran mussten Sie sich erst gewöhnen?

Nico Lehmann: Gewöhnen musste ich mich an das Verkehrschaos, den Lärm, die Hochhäuser neben klapprigen Blechhütten, den Leistungsdruck, die Fahrradstaus, die ständigen Kontrollen und die Zensur, das Rülpsen und Schmatzen am Tisch, die überfüllten Metrolinien, die monsunähnlichen Regengüsse, das permanente Hupen der Mopedkolonnen, exotische Gerichte und die vielen Menschen die einen als "blonde Langnase" anstarren oder fotografieren.

Volksstimme: Wie äußerst sich das?

Nico Lehmann: Mein "kleiner Stadtteil" Jiading hier in Shanghai hat mehr Einwohner als Berlin und trotzdem falle ich auf. Es kommt oft vor, dass ich im Restaurant von zehn unterschiedlichen Kellnern bedient werde, da jeder gern mal die Langnase von nahen sehen möchte. Auf der anderen Seite wird vorausgesetzt oder angenommen, dass ich viel Geld habe und daher fallen die Preise für mich Europäer oft spontan etwas höher aus.

Volksstimme: Trotz der Vorbereitung auf Ihren Aufenthalt, was hat Sie überrascht?

Nico Lehmann: Na ja, das sind Widersprüche und die Kluft zwischen Freiheit, Zensur, Armut und Kontrolle auf der einen Seite und der Wirtschaftsboom der chinesischen Megastädte, der Reichtum und die Hightech-Wolkenkratzer auf der anderen Seite. Außerdem kennen nur sehr wenige Chinesen Deutschland, dass hat mich doch sehr überrascht.

Volksstimme: Sie sprachen Zensur und Kontrolle an - wie bemerken Sie das im Alltag?

Nico Lehmann: Jedes Kaufhaus, jede Metrolinie und jede größere Kreuzung ist übersät mit Polizisten oder Wachmännern. Jeder Besucher ist in der Polizeistation mit dem Mietvertrag der Wohnung zu registrieren und sobald man Shanghai verlässt, muss man wieder den Reisepass vorlegen, damit der Staat auch genau weiß, wo du dich wann aufhältst. Außerdem kann man keinen englischen Fernsehkanal finden, kaum englische Zeitungen kaufen und das Schlimmste ist, dass das Internet zensiert wird. Das heißt: kein Google, Youtube. Viele andere Presseinhalte sind auch einfach gesperrt. Außerdem gibt es Kameras an jeder Ecke in jedem Winkel der Straße und ständige Gepäckkontrollen bei Metrofahrten.

Volksstimme: Sie haben die chinesische Küche bereits erwähnt. Sie ist zuweilen brutal, was die Zubereitung angeht.

Nico Lehmann: Ich habe bisher Schlange, Frosch, Schildkröte, Bisamratte, Hühnerköpfe und bissfeste Entenzungen ausprobiert und ich hoffe, dass noch einige Delikatessen hinzukommen. Die Zubereitungsmethoden, die Tierhaltung oder die Hygiene ist sehr abenteuerlich. Das Schlachten, Ausnehmen und Zubereiten von Tieren auf der Straße ist für mich inzwischen alltäglich, da es in China als Beweis der Frische gilt.

Volksstimme: Was genau machen Sie derzeit während Ihres Praktikums?

"Am wohlsten fühle ich mich nach Feierabend in der Nudelküche an einer Seitenstraße."

Nico Lehmann: Zur Zeit läuft im Motorenwerk von Volkswagen Powertrain in Jiading die Umrüstung auf die Serienproduktion eines neu entwickelten Motors an. Zu meinen Hauptaufgaben gehören dabei das Tracking von lokalen und deutschen Lieferanten und die Dokumentation des Zusammenbaus der Versuchsmotoren für Prüfstände und Dauerlauffahrzeuge. Neben dem technischen Know-how der Motorentechnik gehört die Sprachbarriere täglich zu den größten Herausforderungen.

Volksstimme: Chinesen gelten allgemein als Arbeitsbienen...

Nico Lehmann: Natürlich sind die chinesischen Kollegen sehr fleißig, aber Arbeitsbienen trifft weniger zu. Zum Beispiel ist es für sie eher typisch an Arbeitsplätzen den Kopf auf den Tisch zu legen und zu schlafen oder stundenlang mit dem Handy nebenbei mit Freunden zu telefonieren. Erstaunlich ist, dass es bei all den kulturell bedingten unterschiedlichen Arbeitsweisen trotzdem erfolgreiche Zusammenarbeit gibt und das Vertrauen, gegenseitige Unterstützung und Akzeptanz zwischen allen Beteiligten im Werk den Arbeitsalltag bestimmen.

Volksstimme: In der Zwischenzeit hatten Sie Besuch aus Deutschland und haben Peking erlebt mit sieben Tagen Anlauf. Wieso eigentlich?

Nico Lehmann: Nur maximal sieben Tage im Voraus hat man die Möglichkeit, ein Ticket für den Schnellzug nach Beijing, also Peking, vom nur chinesisch sprechenden Bahnpersonal am Schalter zu ergattern.

Volksstimme: Was hat Sie in Peking beeindruckt?

Nico Lehmann: Da kann ich mich nicht festlegen. Die Verbotene Stadt mit dem Platz des himmlischen Friedens und den gesamte Kaiserpalast zu besuchen und dabei etwas über die lange Geschichte und Kultur Chinas zu erfahren, war sehr faszinierend. Genauso zählt das Besteigen des größten Bauwerkes der Menschheit - der chinesische Mauer - zu einer unvergesslichen Chinaerfahrung.

Volksstimme: Sie haben zwar noch einige Wochen vor sich, bevor Sie am 23. Dezember den Heimweg nach Lübs antreten. Können Sie jetzt schon sagen, was Sie an Erfahrungen mitnehmen werden?

Nico Lehmann: Auf jeden Fall habe ich anderen Blick auf unser schönes Deutschland entwickelt. Ich habe entdeckt wie gut es uns in unserer sozialen, demokratischen Wohlstandsgesellschaft doch eigentlich geht und das es uns grundlegend an nichts fehlt. Außerdem habe ich gelernt, viel toleranter und offener für anfangs Unbegreifliches zu sein. Frei nach dem Motto "andere Menschen, andere Sitten" sollten fremde Kulturen auch bei uns überall akzeptiert werden, denn ich wurde es schließlich auch.

Volksstimme: Zum Abschluss unseres Gesprächs - wo sind Sie abends anzutreffen?

Nico Lehmann: Am wohlsten fühle ich mich nach Feierabend in der Nudelküche in einer kleinen Seitenstraße in der Nähe. Serviert mit scharfem Gemüse und Hühnerbrühe genieße ich mein tägliches Abendbrot dann zwischen den vielen schmatzenden und kleckernden chinesischen Landsleuten, die es immer wieder versuchen mit mir zu sprechen oder ein Foto mit mir zu bekommen.