1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Halberstadt
  6. >
  7. Auf den Spuren der Ur-Harzer

Archäologie Auf den Spuren der Ur-Harzer

Dunkle Flecken im Boden elektrisieren Archäologen. Aus gutem Grund, die Vorharzregion ist seit Jahrtausenden besiedelt.

Von Sabine Scholz 11.10.2020, 01:01

Halberstadt l Der Blick geht weit ins Land. Die Sonne wärmt das Gras auf der kleinen Anhöhe, die sich vor dem Sandsteinhöhenzug der Klusberge wie eine Terrasse ausbreitet. Grünland mit einigen Feuchtstellen neigt sich hinab zu einem nahen Bach. Jochen Fahr holt ein paar einzeln verpackte Keramikscherben aus einer Kiste. Dann lässt auch der Archäologe seinen Blick schweifen über dieses alte Siedlungsland. Seit mehr als 7000 Jahren ist die Nordharzegion ununterbrochen besiedelt. Nicht jede kleine Häusergruppe hat sich zu einem Ort entwickelt, nicht jeder Kultort ist sichtbar erhalten. Aber im Boden sind sie zu finden, die Spuren der Ur-Harzer. Die Scherben belegen es.

Der Gebietsreferent vom Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie weiß, wie viel seine Kollegen hier schon gefunden haben. Vor allem beim Bau der heutigen A 36 sicherten sie in Notgrabungen Siedlungsspuren, entdeckten Gräber, bei Harsleben eine Ringwallanlage, einen kultischen Ort. Für den Klusfelsen selbst, der in der früher nicht bewaldeten Gegend sicher ein wichtiger Bezugspunkt war, könne man die kultische Nutzung nicht belegen. „Aber vorstellbar ist es schon“, sagt Fahr.

Schon vor mehr als vor drei Jahrtausenden haben Menschen hier am Fuß der Klusfelsen gesiedelt. Fahrs Blick fällt auf das riesige Getreidesilo am östlichen Stadtrand Halberstadts. Sehr viel kleinere Vorgänger haben er und seine Kollegen hier gefunden. Die ragten allerdings anders als die Betonröhren nicht in die Höhe, sondern fast einen Meter in die Tiefe. Nach oben hin verjüngen sich die Gruben, so waren sie besser wieder abzudecken. Schließlich sollte der Vorrat den hier siedelnden Menschen das Überleben in den kalten Wintermonaten sichern. „Man kann davon ausgehen, dass die Vorräte hier unter Luftabschluss lagerten“, sagt der Archäologe.

Ein Foto zeigt eindrucksvoll den Befund. Deutlich zeichnen sich die schwarzen, pyramidenförmigen Gruben vom hellen Lößboden ab, in den sie vor Jahrtausenden gegraben worden waren. „Viele dieser Gruben stammen aus der Bronzezeit“, sagt Fahr. Das Grabungsteam hat die für die Zeit zwischen 1000 und 800 vor Christus typischen Keramiken gefunden. Auch aus der Kaiserzeit, zwischen 0 und 500 nach Christus stammen einige der Keramiken. Die ältesten Funde datieren hingegen zurück bis in die Steinzeit.

Es ist altes Siedlungsland, durch das die Halberstadtwerke ihre neue Haupttrinkwasserleitung legen. Nur deshalb konnte der Wissenschaftler hier auf dem kleinen Plateau seine Zeitreise antreten. „Die Zusammenarbeit hat hervorragend geklappt“, sagt Jochen Fahr. Nicht immer ist seine Zunft willkommen, bedeutet ihr Einsatz doch meist Zeitverzögerungen und Mehrkosten für die Bauherren. Aber Firmen wie die Stadtwerke haben Erfahrung mit den Anforderungen der Bodendenkmalpfleger, die Bauzeiten werden entsprechend geplant.

Viel Zeit jedoch ist nie, wenn solche Trassen in den Boden geschlagen werden. Obwohl die Region ein Eldorado für Archäologen wie Fahr ist, gegraben wird fast nur aus der Not heraus. Selten, dass ein umfassender Forschungsauftrag intensive Ausgrabungen ermöglicht.

Meist geht es wie bei der Wasserleitung darum, durch Rettungsgrabungen Geschichtszeugnisse vor ihrer Zerstörung durch die Baggerschaufeln zu bewahren, sie zu dokumentieren, Funde und Befunde zu archivieren. Und fast immer reicht es anschließend nur zu einer groben Erfassung und Bewertung der Funde. Auch die Auswertung der hier entlang der Leitungstrasse geborgenen zahlreichen Scherben, Bronzenadeln, Gewandspangen, Knochen, Urnen, Steinbeile, Webgewichte oder Spinwirteln müssen wohl nachfolgende Generationen von Forschern in Angriff nehmen. Denn die Grabung ist zwar per Gesetz vom Bauherren zu finanzieren, nicht aber die weitere Erforschung der Funde.

Zu den Funden hier am Fuß der Klusberge gehören auch Feuerstellen und zwei kreisrunde Gruben, in denen Kalk gebrannt wurde. „Wir haben hier also einen Wirtschaftsbereich erfasst“, sagt Fahr. Der Kalk wurde gebrannt und geschlemmt, bevor er als Schutz auf die mit Lehm verschmierten Hauswände kam. Der Lehm dichtete das Flechtwerk zwischen den Pfosten der Lamghäuser ab. „So eine Lehmwand hält schon was ab von der Witterung, aber der Kalk als oberste Schicht sorgt dafür, dass das Wasser noch besser abperlt“, erklärt der Archäologe. „Schon seit der Bronzezeit ist diese Technik nachgewiesen, die auch in der Kaiserzeit noch genutzt wurde.“

Der Wirtschaftsbereich belegt eine Siedlung, wie weit sich diese auf dieser kleinen Anhöhe erstreckte, kann der Gebietsreferent nicht sagen. „Wir hören immer an der Baugrenze auf zu graben. Natürlich würde man manches Mal gerne den einen Graben weiter verfolgen, den Hausgrundriss komplett freilegen“, sagt Fahr. Aber die Realität ist eine andere. „Doch solange der Boden nicht gestört wird, sind die Funde ja geschützt. Und wer weiß, über welche Technik künftige Generationen verfügen, um diese Funde vielleicht auch ohne das Graben zu erforschen.“

Seine aktuell geborgenen Scherben weisen in die Bronzezeit, in die frühe Eisenzeit und in die Kaiserzeit. Auskunft darüber gibt nicht nur die Härte des Brandes, sondern vor allem auch die Art der Verzierung. Die Linienbandkeramik zum Beispiel.

Die Menschen, die ihre Gebrauchsgegenstände so verzierten, waren vor etwa 7000 Jahren die ersten Siedler, die Hausbau, Viehzucht und Ackerbau betrieben und deren Verbreitung in Mitteldeutschland elbaufwärts bis in das nördliche Harzvorland nachgewiesen ist. Die Wurzeln dieser jungsteinzeitlichen Kultur liegen im Flussgebiet der Donau.

Dass auch schon vor rund 7500 Jahren Jäger und Sammler in der Vorharzregion lebten, haben bereits zahlreiche andere Grabungsfunde belegt. Dank der guten Böden, der zahlreichen Bäche und Flüsse und der verkehrsgünstigen Lage ist die Region seit mehr als 7500 Jahren unterunterbrochen besiedelt. Auch für den Bereich zwischen Halberstadt und Harsleben ist das nachgewiesen.

Und die Menschen waren schon damals vernetzt. Bei Grabungen auf der Trasse der Ortsumgehung Halberstadt-Harsleben fand sich in einer Bestattung aus der Zeit der Linienbandkeramik-Kultur eine besondere Grabbeigabe: eine Kette aus durchlochten Schneckenhäusern. Die Gehäuse stammen von der Schnecke Lithoglyphus naticoides, die während des Neolithikums (5500 bis 2200 vor Christus) im Donaugebiet und im heutigen Österreich verbreitet war.

Da stellt sich die Frage, die die Kette in den Nordharz kam. Durch Handel oder als Hochzeitsgeschenk?

Das durch die Grabungen oft mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet werden, daran ist Jochen Fahr gewöhnt. Es gehört zum Archäologenleben einfach dazu. So haben die Wissenschaftler auch noch keine abschließenden Anworten auf die Fragen, die beim Fund der Totenhütte bei Benzingerode auftraten. Als vor einigen Jahren auf der Trasse der heutigen A 36 gegraben wurde, fand man dieses haushähnliche Grab, in dem 40 Skelette lagen. Aber weshalb waren vor 5000 Jahren diese Menschen gemeinsam begraben worden? Diese Frage ist für das Massengrab mit elf Skeletten auf dem Halberstädter Sonntagsfeld gleichermaßen noch nicht beantwortet. Viele Fragen gibt es ebenfalls bei der aktuellen Grabung an der Grenze Niedersachsens zu Sachsen-Anhalt. Bei Watenstedt wird eine ungewöhnlich große bronzezeitliche Burganlage ergraben.

Dass diese Region seit Jahrtausenden alles bietet, was man zum Leben braucht, ist nicht nur bei Ausgrabungen zu sehen. So kündet der Menhir bei Benzingerode auch oberhalb des Erdbodens davon, dass Menschen hier lebten, die bereits religöse Vorstellungen besaßen. Die Ringgrabenanlage, die man bei Harsleben fand, bestätigt rituelle Zeremonien.

Jochen Fahr jedenfalls ist gespannt, was der Boden hier im Vorharz noch alles an Geheimnissen freigeben wird. Denn es wird viel gebaut, also muss auch gegraben werden.