Domschatz Der einzige seiner Art

Er ist ist ein weltweites Unikat: der Heiltumsschrank im Teppichsaal des Halberstädter Domschatzes.

Von Sabine Scholz 17.06.2020, 04:00

Halberstadt l Ein bisschen abweisend wirkt er schon, der Heiltumsschrank im Gang vor dem Teppichsaal des Halberstädter Domschatzes. Rostbraun gestrichen, völlig schmucklos steht der knapp drei Meter breite und 2,50 Meter hohe Schrank auf einem hohen Podest. Rechts und links des Schranks sind hinter Glas sogenannte Tüchleinmalereien zu sehen. Dass sie den Schrank einrahmen, hat einen guten Grund.

Die Bilder zeigen die Schutzpatrone des Halberstädter Doms – die beiden Heiligen Stephanus und Sixtus. Die Bilder in Temperafarben wurden wohl um 1520 auf das Leinentuch aufgebracht, das dann auf die Innenseiten der Schranktüren geklebt wurde. Sichtbar waren die Schutzheiligen also nur, wenn die Türen des Kolosses geöffnet waren.

Das allerdings waren sie nicht sehr oft, denn in seinem Inneren barg der fast eine Tonne schwere Schrank das Kostbarste, das eine Kirche im Mittelalter besitzen konnte: Reliquien. Die Knochen von Heiligen, Dinge, die sie getragen oder berührt hatten, wurden im Mittelalter hoch verehrt. Sie wirkten Wunder, so wie es die Heiligen selbst getan hatten. Und deshalb ist der aus massiven Eichenbohlen gefertigte und rundum, auch unter dem Boden, mit Eisenplatten beschlagene Schrank nicht einfach nur ein Heiltumsschrank, sondern auch ein Tresor.

„Wir gehen davon aus, dass der Schrank an Ort und Stelle gefertigt wurde“, sagt Hartmut Meier, Restaurator und Möbelspezialist der Kulturstiftung Sachsen-Anhalt. Beleg dafür sind laut Beier die verwendeten Verfahren, um zum Beispiel die Regalböden einzupassen. An Ort und Stelle bedeutet in diesem Fall, im Hohen Chor des Domes, denn auf dem „vornehmsten Altar“ der gotischen Kathedrale hatte dieser Heiltumsschrank seinen Platz, wie Dr. Uta-Christiane Bergemann berichtet. Und einmal zusammengebaut, hätte er nicht durch die kleinen Türen im Hohen Chor gepasst.

Die dendrochronologische Untersuchung des verwendeten Holzes habe ergeben, dass der Schrank auf keinen Fall vor 1508 gebaut worden sein kann. „Frühestens zu diesem Termin sind die Bäume gefällt worden, rechnet man die vor der Verarbeitung erforderliche Trocknungszeit dazu, kommen wir in die Zeit um 1520“, erklärt Meier. Dazu passten auch die metallurgischen Befunde.

„Es gibt keinen einzigen anderen Heiltumsschrank dieser Art, der noch erhalten ist“, sagt Dr. Uta-Christiane Bergemann, „es gibt Berichte, dass es solche Schränke auch in anderen Kirchen gab. Aber sie sind nicht erhalten geblieben. Der hier ist der einzige seiner Art“. Einer der Gründe für die Museumsleiterin des Domschatzes, warum der Schrank so prominent präsentiert wird, trotz seiner Schlichtheit.

„Und, es gibt kaum Veränderungen an ihm, das ist bei Möbeln sehr, sehr selten“, ergänzt Meier. Ein so gut erhaltenes Original aus dem frühen 16. Jahrhundert habe einen ganz besonderen Stellenwert auch für die Forschung, so Meier weiter.

In seinem Inneren war der Schrank beileibe nicht so schlicht wie von außen. Neben den Gemälden auf den Innenseiten der Türen, war die Rückwand des Schrankes Azuritblau gestrichen. An einigen Stellen ist auch jetzt, fünf Jahrhunderte später, noch das strahlende Himmelblau zu sehen. Auf diesem Blau waren vergoldete Zinnsterne angebracht worden, auch von denen gibt es Reste. Dieses prachtvolle Innere war der Rahmen für die Reliquienbehältnisse, die selbst aus edelsten und seltenen Materialien bestanden. Es muss beeindruckend ausgesehen haben, wenn der Schrank offen war.

Komplett geöffnet wurde der Schrank sicher nur zu den heiligsten Festtagen, sichtbar auch dann nur für die Domherren. Da der Schrank unterschiedlich weit geöffnet werden kann, ist davon auszugehen, dass manchmal nur bestimmte Reliquiare zu sehen waren. Benutzt wurden sie durchaus, für Prozessionen, aber auch im Gottesdienst.

Ein so großer Reliquienschatz lockte immer viele Pilger an, bestimmte die Bedeutung einer Kirche im Mittelalter. Noch ein Grund, warum die Reliquiare besonders geschützt aufbewahrt worden. So gab es acht Schlösser, mit denen der Schrank verschlossen wurde. „Es ist bekannt, dass es auch acht Domherren gab, die je einen der Schlüssel besaßen“, sagt Uta-Christiane Bergemann.

Ansonsten weiß man relativ wenig zur Geschichte des Schranks. Im 19. Jahrhundert gibt es Beschreibungen, dass es einen Behang aus Goldstoff gab, zu Renaissancezeiten müssen Zierzwickel die Ansicht etwas verschönert haben, die den erhöhten Teil in der Mitte des Schrankes mit den beiden tiefer liegenden Seitenteilen verbanden. Davon gibt es eine Zeichnung in einem Kirchenführer.

„Vermutlich waren bis zur Säkularisierung 1810 die Reliquien in dem Schrank untergebracht, der wohl in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts noch im Hohen Chor stand“, so Bergemann. Informationen finden sich kaum in den schriftlichen Quellen. Dann wanderte der Koloss in den Kreuzgang, stand wohl lange neben der Stephanuskapelle an der Ostseite des Kreuzgangs. Dass er Wind und Wetter ausgesetzt war, zeigten die heftigen Rostschäden vor der Restaurierung 2008 und bis heute Wasserstreifen auf dem Holz. Zu DDR-Zeiten ist der Schrank konservatorisch behandelt worden, bekam seinen rostroten Anstrich. „Was vermutlich passt zur früheren Farbfassung, denn im Hohen Chor finden sich im unteren Teil Reste roter Farbgebung“, berichtet Hartmut Meier. Da hätte sich der Schrank gut eingefügt.

Vor der Neupräsentation des Domschatzes 2008 wurde das prominente Stück erneut restauratorisch behandelt. Mikrokristalliner Wachs schützt die Oberfläche, eine fehlende Leiste wurde ersetzt. Ansonsten zeigt sich der Schrank so, wie er die Jahrhunderte überdauert hat.

Den Blick ins Innere allerdings, der am Montag dieser Woche für Medien und Gästeführer ermöglicht wurde, den gibt es auch derzeit nur alle paar Jahre.