Der Veltheimer Dieter Lattke ist seit 45 Jahren ehrenamtlich als Schiedsmann tätig "Ich bin ein Schlichter, aber kein Richter"
Dieter Lattke ist einer der dienstältesten Schiedsleute in Sachsen-Anhalt, er übt dieses Ehrenamt seit 45 Jahren aus. Im Dezember wurde der Veltheimer vom Osterwiecker Stadtrat für weitere fünf Jahre gewählt.
Veltheim/Stadt Osterwieck l Mit einem Vorurteil räumt Dieter Lattke gleich auf. "Ich bin ein Schlichter, aber kein Richter", betont er. Er urteilt nicht, sondern versucht, Streitende an einen Tisch und letztlich zu einer Einigung zu bringen. In immerhin 80 Prozent der Fälle gelingt ihm das auch.
Urteile hat Dieter Lattke trotzdem auch schon gefällt. Früher in der DDR war das Schiedswesen anders aufgestellt als heute. Die Schiedskommissionen hatten den Status von gesellschaftlichen Gerichten, sprachen Strafen von der einfachen Ermahnung bis zur Geldbuße über maximal 50 Mark aus. Mindestens zu viert saß die Schiedskommission am Tisch, heute ist Dieter Lattke Einzelkämpfer. Andere Zeiten, andere Länder, andere Gesetze.
"Das hat das ganze Dorf interessiert."
Als Lattke Mitte 1967 in die für Veltheim und Osterode zuständige achtköpfige Schiedskommission gewählt wurde, war das Schiedsmannswesen sogar noch nach altem preußischem Recht aus dem 19. Jahrhundert geregelt. Erst 1964 wurden in der DDR Schiedskommissionen gebildet, 1968 gab es eine neue gesetzliche Grundlage. Gerade mal 23 Jahre alt war Dieter Lattke bei seiner Berufung in die Veltheimer Schiedskommission. Dazu kam es, weil der bisherige Vorsitzende plötzlich verstorben war. Als Schlosser im Osterwiecker Gleitlagerwerk und damit der Arbeiterklasse zugehörig, sowie als Fernstudent zum Ingenieur hatte er nach damaligen Maßstäben beste Voraussetzungen.
Auch wenn Veltheim und Osterode eine Einheitsgemeinde bildeten, die Fälle für die Schiedskommission waren doch überschaubar. Erst im Sommer 1968 saß Dieter Lattke mit am Verhandlungstisch, bereits 1972 war er Vorsitzender der Schiedskommission. Es gab Jahre wie 1977, wo in beiden Orten nichts zu verhandeln war, aber auch Jahre wie 1975, als gleich zehn Fälle auf dem Tisch landeten. Meist ging es um Beleidigungen, Verleumdungen, Futter- oder kleinere Ladendiebstähle.
Schmunzelnd erinnert sich Dieter Lattke heute an eine Rentnerin, die 1969 ertappt wurde, als sie im Büstenhalter 500 Ostmark auf eine Reise in den Westen mitnehmen wollte. Wobei damals sicher niemand darüber schmunzelte.
"Die Verhandlungen waren immer öffentlich", betont er. Und es gab tatsächlich ein kleineres Stammpublikum. Als sich 1975 aber "drei Frauen furchtbar in die Haare bekommen" hatten, saßen gar 40 Zaungäste im Saal. "Das hat das ganze Dorf interessiert."
Zuständig war die Schiedskommission übrigens auch für Leute, die aus Arbeitsscheu keine gesellschaftlich nützliche Arbeit leisten wollten. Andere Zeiten eben.
Gern erinnert sich Dieter Lattke an Alwin Feuerstake aus Heudeber, der als Familienrichter am Kreisgericht Halberstadt die Schiedsleute regelmäßig schulte. "Er war ein sehr guter Mentor, ein Richter der alten Schule." In Veltheim gehörten u. a. auch Rolf Maximilian und Günther Böhlke viele Jahre zur Schiedskommission.
Die Fälle aus DDR-Zeiten hat Dieter Lattke in einem Ordner gesammelt. Daraus geht auch hervor, dass die letzte Sitzung am 27. Juli 1989 stattfand, der letzte Antrag aber vom März 1990 stammt. Zur Verhandlung kam es nicht mehr. Die Menschen hatten jetzt andere Sorgen. Auch Dieter Lattke, der nach 20 Jahren im Polizeidienst nun zum Zoll wechselte.
"Gewohnheitsrecht ist kein Recht."
Wenige Tage vor der deutschen Einheit verabschiedete die DDR noch ein Schiedsstellengesetz, das mit in den Einigungsvertrag aufgenommen wurde. Es legte fest, dass in den Gemeinden Schiedsstellen mit maximal drei Personen einzurichten sind. In der Praxis gab es aber in Veltheim keinen Bedarf auf Streitschlichtung. Zumindest gab es bis 1994 keine Sitzung mehr. Nur aus Deersheim ist eine Sitzung - im Jahr 1994 - bekannt.
Nach der Gründung der Verwaltungsgemeinschaft Aue-Fallstein wurde 1994 für das sieben Gemeinden umfassende Gebiet eine gemeinsame, dreiköpfige Schiedsstelle gegründet mit Dieter Lattke, Karl Radach aus Dardesheim und Manuela Hennig aus Deersheim. Aber auch sie haben nie zusammengesessen. "Sicher weil die Schiedsstelle in der Bevölkerung nicht bekannt war", vermutet Lattke. Derweil bildete er sich aber im bundesdeutschen Recht regelmäßig weiter, besuchte Lehrgänge im Zivilrecht, Strafrecht und vor allem Nachbarschaftsrecht.
Die offenbar vielen Nachbarschaftsstreitigkeiten in Sachsen-Anhalt sollten nach einer Gesetzesänderung 1999 fortan für Arbeit der Schiedsstellen insgesamt und für Dieter Lattke in Aue-Fallstein sorgen. Vor allem um die Gerichte zu entlasten. "90 Prozent der Bürger kommen nicht freiwillig zu uns", stellt er fest.
Viele Konflikte entstehen, wenn Altbesitzer neue Nachbarn bekommen, berichtet er. Gewohnheitsrechte aus der Vergangenheit stellen die neuen Nachbarn in Frage, und schon beginnt der Streit. "Gewohnheitsrecht ist kein Recht", unterstreicht Lattke. In der Verhandlung indes versucht er nicht vordergründig, dem Antragsteller zum Recht zu verhelfen, sondern dass sich beide anschließend die Hände reichen. Dafür kann durchaus ein Kompromiss die Grundlage sein, dass etwa die strittigen überstehenden Baumüberhänge bleiben, weil der Nachbar dafür an anderer Stelle nachgibt. Lattkes Erfolgsquote liegt weit über dem Bundesdurchschnitt, sicher auch darin begründet, dass man sich auf dem Lande besser kennt als in einer großen Stadt.
Drei bis fünf Fälle im Jahr hat Dieter Lattke auf dem Tisch. Im Gegensatz zu früher ist seine Tätigkeit für die Streitparteien nicht mehr kostenlos. 50 Euro plus Aufwändungen muss der Antragsteller im Erfolgsfall zahlen, gibt es keine Einigung, sind es 25 Euro. "Das schreckt viele ab."
"Unsere Arbeit ist kein zahnloser Tiger."
Am Ende einer erfolgreichen Sitzung gibt es ein Protokoll, in dem das Schlichtungsergebnis von beiden Parteien unterzeichnet wird. Hält sich jemand später nicht an die schriftliche Vereinbarung, so kann durch das Amtsgericht kurzfristig eine Vollstreckung, zum Beispiel über eine Geldleistung zur Ersatzvornahme, erwirkt werden. "Unsere Arbeit ist also kein zahnloser Tiger", betont Lattke. Wenn er in der Mehrzahl spricht, so verweist er darauf, dass Osterwieck in zwei Schiedsbezirke aufgeteilt ist. Lattke selbst ist für die ehemaligen Aue-Fallsteiner Orte zuständig, die andere Hälfte der Stadt betreuen gemeinsam Sybille Peters aus Rhoden und Ulrike Günther aus Stötterlingen.
Als Motivation für sein Ehrenamt sieht Lattke zum einen die langjährige Unterstützung durch das Rathaus, was aus seiner Erfahrung längst nicht überall im Land so mustergültig sei. Natürlich habe er ein gewisses Gerechtigkeitsempfinden, ihn motiviere auch nach wie vor, Menschen zu führen, mit ihnen zu arbeiten. Die 50 Jahre als Schiedsmann möchte Dieter Lattke auf jeden Fall noch erreichen. "Geistige und körperliche Fitness vorausgesetzt", so der 67-Jährige.