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Kriminalität Nach Diebstahl an Wohnung gefesselt

Ein Unterschenkelamputierter in Halberstadt wurde Opfer eines Diebes. Zudem fühlt er sich von Krankenkasse und Ämtern im Stich gelassen.

Von Sandra Reulecke 03.02.2020, 00:01

Halberstadt l Seit gut einer Woche verlässt Ottmar Schlegel kaum noch das Haus. Im März 2019 ist ihm der rechte Unterschenkel amputiert worden, dank seines dreirädrigen Fahrrads konnte er dennoch mobil sein. Ohne das Gefährt sind schon kurze Wege sehr beschwerlich, berichtet der Halberstädter. Doch das Rad ist ihm nun gestohlen worden.

„Es hat keinen großen Wert, nur für mich. Ich war so glücklich damit, mobil und unabhängig.“ Nie hätte er damit gerechnet, dass jemand „das alte Ding klaut“. Deshalb habe Schlegel das Rad weder versichert noch in den Fahrradraum, den es in dem Mehrparteienhaus in der Kühlinger Straße gibt, gebracht. Er habe es vor der Tür an den Fahrradständer angeschlossen.

Vor drei, vier Jahren habe er das schwarze Dreirad gebraucht gekauft. Schon damals habe er Probleme mit dem Gleichgewicht gehabt. „Ich habe schwere Diabetes“, berichtet der ehemalige Maschinenanlagenmechaniker. Aufgrund der Zuckererkrankung leide er an diversen Folgeerkrankungen. Dass ihm der Unterschenkel amputiert werden musste, ist eine davon. „Der andere Fuß ist auch betroffen, aber die Ärzte versuchen ihn zu retten.“ Zudem sind die Nieren geschädigt. Drei Mal in der Woche muss Schlegel zur Dialyse, auch Blutwäsche genannt. Außerdem leidet der 65-Jährige am Grauen Star, einer Trübung der Augenlinse. „Darum kann ich auch kein Auto mehr fahren.“

Dank Prothese und Krücken könne er zwar laufen, aber „nur ein paar Meter“. Und sein Rollstuhl, mit dem er sich in der Wohnung fortbewegt, sei für die Straße – Kopfsteinpflaster, hohe Bordsteine, Straßenbahnschienen – nicht geeignet. Ihm fehle die Kraft in den Armen, den manuellen Rollstuhl zu kippen, um so Hindernisse zu überwinden. Aus diesem Grund falle es ihm auch schwer, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. „In Halberstadt ist längst nicht alles barrierefrei. An vielen Haltestellen kommt man nur schwer in den Bus“

Ohne sein Fahrrad sei der Halberstädter deshalb vermehrt auf Hilfe angewiesen. Doch genau da liegt das Problem: Schlegel ist alleinstehend, der Sohn lebt in Berlin, die Tochter in Leipzig. Sein Antrag auf eine Begleitperson sei abgelehnt worden. Ebenso sein Antrag bei der Krankenkasse auf Fahrkostenerstattung, wenn er Taxis nutzt. „Zur Dialyse werde ich gefahren und die Kosten werden übernommen, aber wenn ich zu meiner Diabetologin nach Wanzleben muss, nicht“, berichtet Schlegel. „Ich gelte nicht als außergewöhnlich gehbehindert. Ich frage mich wirklich, wie viele Beine einem fehlen müssen, um diesen Status zu bekommen.“

Die Antwort darauf kennt Anna-Kristina Mahler, Pressesprecherin von Schlegels Krankenkasse, der AOK Sachsen-Anhalt. „Eine Gehbehinderung wird in der Regel in einem Schwerbehindertenausweis dokumentiert. Diesen stellt das Versorgungsamt aus. Das Versorgungsamt entscheidet auch über den Grad der Behinderung“, erläutert sie auf Volksstimme-Anfrage. Die Voraussetzungen für ein „aG“ – also außergewöhnlich gehbehindert – sind im Sozialgesetzbuch geregelt. Demnach müsse unter anderem ein Grad der Behinderung von mindestens 80 Prozent vorliegen. Eine erhebliche Mobilitätseinschränkung liege vor, wenn der Versicherte nicht mehr als 50 bis 100 Meter ohne Hilfe gehen kann. „Ist der Versicherte beispielsweise mit einer Prothese versorgt und kann sich entsprechend fortbewegen, kann dies schon Grund sein, das Merkzeichen ‚aG‘ nicht zu erhalten“, erläutert Kristina Mahler.

Für Patienten mit einem Schwerbeschädigtenausweis mit den Merkzeichen „aG“, „Bl“ (blind) oder „H“ (hilflos) werden die Fahrkosten grundsätzlich erstattet, so Mahler. Ebenso für Personen mit Pflegegrad 4 oder 5 sowie mit Pflegegrad 3 und vergleichbarer Mobilitätseinschränkung, die vom Arzt bestätigt wurde. „In allen anderen Fällen müssen die Fahrkosten zu einer ambulanten Behandlung vorab genehmigt werden.“ Für stationäre Behandlungen gelten andere Vorgaben. „Wir übernehmen beispielsweise die Fahrkosten zu oder von einer stationären Behandlung, bei Fahrten zu einer vor- oder nachstationären Behandlung, bei teilstationären Behandlungen in einer Tagesklinik oder auch zu Mutter-Vater-Kind-Kuren“, erläutert Mahler.

Die AOK-Mitarbeiterin gibt zudem Auskunft zum Thema Begleitperson: „Behinderte Menschen können grundsätzlich im Rahmen der Eingliederungshilfe prüfen lassen, ob sie eine Begleitperson gestellt bekommen. Über die genauen Voraussetzungen entscheidet der überörtliche Träger der Sozialhilfe, für Sachsen-Anhalt ist das die Sozialagentur Sachsen-Anhalt.“ Abschließend bearbeitet werden die Anträge in Sozialämtern der Landkreise und kreisfreien Städte. Von dort werden die Kosten übernommen.

Der Knackpunkt in Ottmar Schlegels Falls: Wie er gesteht, hat er sich bislang nicht um die Ausstellung eines Pflegeausweises gekümmert. Wie er berichtet, fühlt er sich mit den unterschiedlichen Zuständigkeiten und Regelungen überfordert. „Keiner sagt dir, an wen du dich wenden kannst“, sagt er. „Man bekommt nur eine Absage und das war es. Keiner sagt dir, was du stattdessen beantragen kannst.“

Er habe Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe für Unterschenkelamputierte aufgenommen, um sich von Leidensgenossen Tipps geben zu lassen. „Aber wie ich zu den Treffen hinkomme, weiß ich noch nicht.“