Gerhard Brüser aus Ilsenburg – ein leidenschaftlicher Brockenwanderer Sonnenaufgang: "Das waren Momente, die ich nie vergessen habe"
Vor 50 Jahren, am 13. August 1961, begann die DDR mit dem Berliner Mauerbau. Später folgte der Eiserne Vorhang quer durch Deutschland. Auch der heutige Harzkreis war davon betroffen. Die Volksstimme besuchte ehemalige Grenzorte und traf dort Menschen, die jahrzehntelang mit dem Zaun lebten. Zu ihnen gehört mit Gerhard Brüser aus Ilsenburg ein leidenschaftlicher Brockenwanderer.
Ilsenburg. Das kleine Blatt eines Abreißkalenders mit einer roten Drei darauf klebt auf der ersten Seite des Fotoalbums. Gerhard Brüser blättert gern darin. "Diesen 3. Dezember 1989 werde ich nie vergessen." Wie für den Ilsenburger ist an diesem Wintertag vor 22 Jahren für Tausende Harzer ein Wunsch, ja Traum in Erfüllung gegangen: Endlich ist der Brocken wieder frei.
Mit dem Bau der Mauer vor 50 Jahren wurde auch das Plateau auf dem 1141 Meter hohen Harzgipfel mit Betonplatten abgeschottet. Streng bewacht von Grenztruppen der damaligen DDR. Hinter den Mauern wurden leistungsfähige Abhöranlagen gebaut, für die Staatssicherheit und den sowjetischen Militärgeheimdienst. Von diesem Ausmaß der Spionage ahnte Gerhard Brüser nichts. "Das wurde uns erst mit der Brocken-Grenzöffnung am 3. Dezember ‘89 so nach und nach bewusst."
"Haltet durch, Ihr werdet sehen, es lohnt sich"
An jenem Sonntag machte sich Gerhard Brüser mit seinen Söhnen Andreas und Stefan schon um 8 Uhr auf den Weg. "Offiziell startete die Brocken-Wanderung um 9 Uhr von Ilsenburg aus." Gleich hinter den Ilsefällen gab es keine Wegbeschilderung mehr. Vater und Söhne folgten den Bäumen, die weiße Ringe trugen. "Sie markierten die Grenze zum Speergebiet", habe sich Brüser erinnert. Auch an den weiteren Verlauf des Pfades, den er vor einer Ewigkeit mit seinem Vater Walter zum Brocken hoch gewandert sei. So wie seine 15 und elf Jahre alten Jungen, habe auch er damals kleinlaut angefragt, wie weit es denn noch sei. "Ich war erst sechs Jahre alt, trug neue Sandalen und hatte mir furchtbare Blasen gelaufen."
Seine Jungen trugen Winterwanderstiefel und seien von ihm mit den Worten motiviert worden: "Haltet durch, Ihr werdet sehen, es lohnt sich."
Auf dem weiteren Weg begründete der Walzwerker warum. Er berichtete den Söhnen vom beschwerlichen Aufstieg mit seiner Schulklasse über die Schneelöcher, von der abenteuerlichen Übernachtung in der oberen Ilsenburger Skihütte 1959. "Am Morgen sind wir ganz früh aufgestanden und zum Brocken gewandert, um dort den Sonnenaufgang zu erleben." Gerhard Brüser schweigt einen Moment, schließt die Augen und sagt: "Das waren Momente, die ich nie vergessen habe."
Zwei Jahre später, 1961, war der Brocken dicht, das Leben im Sperrgebiet, zu dem die Stadt Ilsenburg gehörte, verschärfte sich. Wanderungen im Harzgebirge waren ebenso eingeschränkt, wie die Möglichkeit, Freunde aus dem benachbarten Drübeck spontan zu sich einzuladen. Für alles brauchte es Genehmigungen.
Zwar lockerte sich die Situation nach 1972, doch der Brocken blieb verriegelt. Die Herausnahme von Gebieten aus der Sperrzone sei nach Brüsers Meinung ökonomischen Zwängen geschuldet gewesen. "Auf die Dauer wäre es für die DDR zu teuer geworden, jedem Bewohner im Sperrgebiet 15 Prozent seines Einkommens Monat für Monat draufzuschlagen." Scherzhaft sei von der Wartburg-Sparzulage gesprochen worden.
"Schade, dass wir dorthin nie wieder wandern können"
Ein Auto hatten die Brüsers nicht. 1973 heiratete Gerhard Brüser seine Frau Hannelore, die aus Thüringen stammt. Sie verliebte sich schnell in den Harz, erkundete ihn auf den erlaubten Wegen. Als ihre beiden Söhne fit genug waren, wanderten sie zu gern zu den Zeterklippen hinauf. Auf 933 Meter über den Meeresspiegel gelegen, war der Brocken zum Greifen nah. "Schade, schade, haben wir uns immer wieder gesagt, dass unser Brocken unerreichbar ist, wir dorthin nie wieder wandern können." In Erinnerungen sei geschwelgt worden. Die Brüsers gemeinsam mit anderen Gleichgesinnten, die fortan immer Pfingsten in Richtung Brocken wanderten. "Das halten wir übrigens bis heute so", sagt der Ilsenburger und ist stolz, dass auch seine Söhne mit ihren Familien dabei sind und die Brocken-Leidenschaft teilen. Mit Sicherheit sei der historische Moment der Grenzöffnung auf dem Harzgipfel für sie ein Schlüsselerlebnis gewesen.
Weit vorne hatten sie damals vor dem Schlagbaum mit Hunderten gewartet. Seien gespannt gewesen, wie die Grenzer auf die fordernden Rufe, das Tor zu öffnen, reagieren. "Dann, ganz langsam hob sich die Schranke, ohne Geschiebe und Gedränge zogen die Massen zum Gipfel." Gerhard Brüser hatte seinen Jungs nicht zu viel versprochen. Bei strahlendem Sonnenschein, blauem Himmel, Plusgraden und Windstille genossen sie zu dritt die Aussicht vom Brocken. Auf ihr geliebtes Ilsenburg, auf die schöne Stadt Wernigerode. "In der Ferne war sogar der Kyffhäuser zu erkennen."
"Es lohnt sich immer noch, den Brocken zu erklimmen"
Das alles hat Gerhard Brüser auf seinen letzten Schwarz-Weiß-Filmen festgehalten und die Fotos sorgfältig in das Familienalbum eingeklebt.
Die folgenden Seiten sind bunt, Farbfotos dokumentieren die Öffnung der Staumauer an der Eckertalsperre am 1. April 1990, die erste Fahrt der Brockenbahn am 15. September ein Jahr später und die vielen Wanderungen zum höchsten Harzgipfel in der Neuzeit.
Gerhard Brüser klappt das Album zu und sagt: "Es lohnt sich immer noch, den Brocken zu erklimmen."