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Ausgesetztes Baby Versuchte Tötung in Osterwieck?

Wie geht es dem Neugeborenen, das in Osterwieck ausgesetzt worden ist? Gegen die Mutter wird wegen versuchter Tötung ermittelt.

Von Sandra Reulecke 11.07.2019, 01:01

Osterwieck/Wernigerode l Noch immer beherrscht ein Thema Osterwieck und die Harz-Region: Das Neugeborene, das in der Nacht zum Dienstag vor einem Wohnhaus der Fallstein-Stadt gefunden worden ist. Zumindest in einem Punkt gibt es positive Neuigkeiten in diesem Fall: Der Zustand des Jungen sei weiterhin stabil, heißt es von der Polizei.

Behandelt wird der Säugling auf der Kinderintensivstation in Wernigerode. „Der Junge wurde äußerlich gewärmt, durch eine Wärmelampe und das Auflegen eines Kirschkernkissens“, informiert Oberarzt Amer Ahmad, Facharzt für Kinderheilkunde am Wernigeröder Harzklinikum. „Zusätzlich befindet er sich in einem Inkubator – Brutkasten – und wird mit warmer, feuchter Luft versorgt.“

Norman Steiger, Bewohner eines Mehrparteienhauses im Osterwiecker Kälberbachsweg, hatte den Jungen in der Nacht zum Dienstag kurz nach Mitternacht auf dem Heimweg entdeckt. Das Kind lag unbekleidet bei Außentemperaturen von etwa zehn Grad Celsius auf Gehwegplatten vor einem Fahrradständer. Der Junge war offensichtlich gerade erst zur Welt gekommen. Wie Steiger am Dienstag der Volksstimme berichtete, war er mit Blut und Käseschmiere bedeckt, die Nabelschnur noch nicht abgebunden. Der 36-Jährige hat sich bis zum Eintreffen der Rettungskräfte, die er alarmiert hatte, um den Säugling gekümmert.

Sehr wahrscheinlich hat dies dem Kind das Leben gerettet. Seine Körpertemperatur war bereits auf 29 Grad Celsius abgesunken. Wie Oberarzt Ahmad erläutert, lag damit eine Unterkühlung, medizinisch Hypothermie genannt, vor. Unter 32 Grad Celsius Körpertemperatur spreche man von einem schweren Grad.

Kinder und insbesondere Neugeborene seien im größeren Maße davon bedroht. Sie könnten im Gegensatz zu Erwachsenen ihre Körpertemperatur noch nicht selbst regulieren, erläutert der Mediziner. „Darum ist es in Kreißsälen und auf der Neonatologie, der Intensivstation für Früh- und Neugeborene, so warm.“ Denn kühlt ein Mensch aus, hat das zur Folge, dass seine Atmung abflacht, der Blutdruck und die Herzfrequenz sind stark verringert, die Hirnaktivitäten verlangsamen sich. Eine Hyperthermie kann zu schweren Erkrankungen bis hin zum Tod führen, berichtet der Mediziner.

Auch die Art, wie das Baby zur Welt gekommen ist – allem Anschein nach war die Frau dabei allein – sei gefährlich für das Kind wie für die Mutter gewesen, betont Oberärztin Dr. Uta Schulze, ärztliche Leiterin der Geburtshilfe am Wernigeröder Harzklinikum. „Es besteht ein hohes potenzielles gesundheitliches Risiko bei einer Geburt ohne medizinische Unterstützung. Für die Mütter beispielsweise Gefahren wie lebensbedrohliche Blutungen, die in der Regel unverhofft auftreten, und Infektionen.“ Werden Kinder ohne medizinische Betreuung geboren, bestehe keine Gelegenheit, einen etwaigen Sauerstoffmangel zu erkennen und darauf zu reagieren. Ebenso könnten Anpassungsstörungen an das selbständige Atmen nach der Geburt nicht behandelt werden.

Eine solche Geburt stelle zudem eine hohe psychische Belastung für Frauen dar. „Sind sie auf sich allein gestellt, haben sie ganz gewiss Angst – zumal bei der ersten Geburt – vor der Ungewissheit, vor dem ihnen unbekannten Ablauf der Entbindung“, so Uta Schulz. Die Ärztin gibt zu bedenken, dass nicht einmal eine Hausgeburt – unter fachkundiger Begleitung einer Hebamme – für jede Schwangere geeignet sei.

Die Mutter des in Osterwieck ausgesetzten Säuglings werde derzeit in einem Krankenhaus behandelt, informiert Oberstaatsanwalt Hauke Roggenbuck. Nach Volksstimme-Informationen handelt es sich dabei um eine andere Klinik als die, in dem der Junge betreut wird. Die 30-Jährige konnte am Dienstagnachmittag dank Hinweisen aus der Bevölkerung von der Polizei ermittelt werden.

Gegen die Frau würden nun Ermittlungen wegen eines versuchten Tötungsdelikts aufgenommen, teilt der Chef der Staatsanwaltschaft in Halberstadt. „Weitere strafprozessuale Maßnahmen werden geprüft.“ Dafür werde man sehr wahrscheinlich auch auf externe Sachverständige zurückgreifen, um ein psychiatrisches Gutachten zum Zustand der Mutter anzufertigen.

Weitere Details zur Identität oder der gesundheitlichen Verfassung der Mutter nennt Roggenbuck nicht. In Osterwieck kursieren Gerüchte, wonach die Frau unter psychischen Problemen leiden soll. Aufgrund des Fundortes des Kindes – einer wenig frequentierten Straße am Stadtrand – und der Tatsache, dass sie aufgrund von Hinweisen aus der Bevölkerung ermittelt wurde, liegt die Vermutung nahe, dass die 30-Jährige in der Stadt wohnt.

Ob sie nach dem Krankenhausaufenthalt in Untersuchungshaft kommt oder auf freiem Fuß bleibt, ließ der Staatsanwalt ebenfalls offen.

Doch wer kümmert sich nun um das Baby? Wie Franziska Banse von der Kreisverwaltung auf Anfrage informiert, befindet es sich mittlerweile in der Obhut des Jugendamtes. Wie es für das Findelkind weitergeht, sobald es aus dem Krankenhaus entlassen werden kann, könne nicht pauschal beantwortet werden. „Theoretisch wird wie folgt vorgegangen: Zunächst nimmt das Jugendamt das Kind in Obhut und das Familiengericht setzt anschließend einen Vormund als gesetzlichen Vertreter ein.“

Wie Banse weiter berichtet, obliege es diesem Vertreter, den weiteren Lebensweg des Kindes mitzubestimmen und zu begleiten. „Er übernimmt die elterliche Sorge.“ Er entscheidet auch über den Namen, informiert Franziska Banse.

Weitere Schritte, die in diesem Fall in Betracht kommen, seien zum Beispiel die Ermittlung von Verwandten, die Vermittlung an eine Pflegefamilie oder Adoption. All dies hänge von den vorliegenden Angaben und der individuellen Situation ab. So könnte auch der Kindsvater – sofern er von dem Baby weiß – Ansprüche auf das Sorgerecht erheben.

Ob die Mutter Kontakt zu dem Kind aufnehmen möchte und überhaupt dürfte, sobald es ihre gesundheitliche Verfassung zulässt, blieb bislang offen. Dies wäre – trotz der Umstände – im Bereich des Möglichen. Zumindest theoretisch könnte der Mutter ein Besuchsrecht bei dem Kind im Krankenhaus zustehen, sagt Oliver Wendenkampf vom Deutschen Kinderschutzbund, Landesverband Sachsen-Anhalt. Dies könne auch begleitet, zum Bespiel von einem Mitarbeiter des Jugendamtes, geschehen, erläutert Wendenkampf.

„Es gilt in Deutschland die Unschuldsvermutung“, erläutert Wendekampf. „Es ist immerhin denkbar, dass sich herausstellt, dass die Frau nicht selbst für die Tat, die ihr vorgeworfen wird, verantwortlich ist.“ Es sei deshalb nicht die Praxis, einer Mutter das Sorgerecht zu entziehen, weil gegen sie ermittelt wird.

Wie das im vorliegenden Fall aussieht, könne er nicht sagen, da er die genauen Umstände nicht kenne. Das Verfahren in solchen Situationen sei von vielen Faktoren abhängig, nicht zuletzt von der Verfassung der Mutter und davon, was die Ermittlungen der Polizei ergeben.

Eine Kindeswohlgefährdung zu vermeiden, sei jedoch grundsätzlich die Priorität bei Entscheidungen des Jugendamtes und der Familiengerichte, so Wendenkampf. Wenn eine solche zu befürchten ist, könne ein Familienrichter sehr kurzfristig die Übertragung des Sorgerechtes anordnen. Dies könne auch zunächst begrenzt für eine bestimmte Zeit geschehen. Nach deren Ablauf würde dann geprüft, ob sich etwas an der Situation geändert habe und die Mutter das Sorgerecht zurück erhalten könne.