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Gastronomie Das Haus der drei Gerüchte

Sie ist in Haldensleben eine Instititution: die Gaststätte Richter in der Holzmarktstraße. Hier atmet Haldensleber Stadtgeschichte.

Von Jens Kusian 25.12.2020, 00:01

Haldensleben l Die Gaststätte Richter in Haldensleben: Frauen sind dort nicht willkommen. Dort trifft sich nur die „High Society“. Und gelacht werden darf dort auch nicht. „Wenn an diesen drei Gerüchten etwas dran wäre, dann gäbe es uns schon längst nicht mehr. Was wäre das denn für ein Gasthaus, so ohne Frauen?“, meint Michael Richter mit einem Schmunzeln. Lachverbot? Gibt es auch nicht, dafür lachen er und seine Frau Birgit selber viel zu gern.

Obwohl, im Augenblick ist ihnen nicht wirklich danach zumute. Corona hat auch die Traditionsgaststätte in der Haldensleber Innenstadt kalt erwischt. Keine Weihnachtsfeiern, kein Weihnachtspreisskat. Trotzdem steht ein geschmückter Weihnachtsbaum im Schankraum, die Tische sind weihnachtlich geschmückt. Einfach nur der Stimmung wegen.

Die Pandemie hat den Richters einen dicken Strich durch ihren Plan für 2020 gemacht. „Das sollte eigentlich unser letztes Jahr sein. Wir wollen aufhören und suchen einen Nachfolger“, erzählt Michael Richter. Doch einen Nachfolger, der die Gaststätte samt Wohnhaus übernimmt, hat er bislang nicht gefunden.

Ebensowenig steht im Augenblick das Thema „Aufhören“ zur Debatte. „Der erste Lockdown im Frühjahr hat uns viel Ruhe beschert. Da haben wir noch einmal zweite Luft bekommen und wollten das Jahr vollmachen“, meint Birgit Richter. Dass sich die Gaststätte jetzt wieder im Lockdown befindet, hat den Abschied noch einmal verschoben. „So wollen wir nicht aufhören“, versichert sie. „Wir werden, wenn es möglich ist, wieder am 10. oder 11. Januar aufmachen“, ergänzt ihr Mann.

Das Ehepaar nutzt die nun freie Zeit auch, um ab und zu in Erinnerungen zu schwelgen. Schließlich sind 100 Jahre kein Pappenstiel. Weshalb es Paul Richter 1920 allerdings nach Haldensleben verschlagen hatte, weiß Michael Richter bis heute nicht. Nur, dass sein Großvater bis dahin eine sehr gut gehende Gaststätte auf dem Gelände der Berliner Charité betrieben hatte.

„Ursprünglich wollte mein Großvater die ,Hagenschänke‘ übernehmen. Dort befindet sich heute Maikas Nähstübchen. Aber das wurde nichts, darum hat er 1920 das Café ,Helgoland‘ in der Holzmarktstraße 2 gekauft“, plaudert der heutige Wirt aus der Familiengeschichte. „Obwohl das Haus einen schlechten Ruf hatte.“

Leichte Mädchen und schwere Jungs waren zur damaligen Zeit das Stammpublikum. „Mein Großvater hat mit dem Faustrecht für Ordnung gesorgt“, so Michael Richter. Den Möbelspediteur Busse hatte der energische Wirt damals an die frische Luft gesetzt. „Der kam mit fünf Möbelpackern zurück und hat aus der Einrichtung Kleinholz gemacht. Das Gericht hatte ihn dann aber verurteilt, das zerstörte Mobiliar zu ersetzen. Und das steht hier noch heute“, zeigt Richter mit einer ausholenden Geste.

Bis ins Jahr 1948 hatte die Gaststätte immer geöffnet. Selbst zu Kriegszeiten hat Paul Richter immer Bier bekommen und ausgeschenkt. 1949 übernahm sein Sohn Paul Hans Richter die Wirtschaft. Dessen Tante aus den USA schickte zu dieser Zeit Care-Pakete nach Haldensleben. Ihr Inhalt: Kaffee und Zigaretten. „Die hat mein Vater dann hier verkauft“, erinnert sich Michael Richter.

Doch dieser Handel missfiel der Obrigkeit. „Mein Vater sollte 300 Mark Strafe zahlen und für sechs Monate schließen. Doch er hatte Fürsprecher, so dass es letztendlich nur bei der Geldstrafe blieb“, verweist Michael Richter auf Zeitungsartikel und den Fürsprechbrief, der noch heute existiert.

Ohne Konsum und staatlicher HO hat die Gaststätte Richter die DDR-Zeit überstanden. „Eine schwierige Zeit. Doch bis zur Wende waren wir die LPG im Bezirk Magdeburg – die letzte private Gaststätte“, blickt Birgit Richter zurück.

Die Eheleute haben 1984 die altehrwürdigen Zapfhähne übernommen. Und auch das Stammpublikum. „Die Gäste wussten zu schätzen, dass hier auf ihre Privatsphäre geachtet wird. Hier wurde so einiges besprochen unter Leuten, die man nie zusammen in der Öffentlichkeit gesehen hat“, weiß Michael Richter.

Wohl ein Grund, weshalb bei Richters angeblich die „High Society“ ein- und ausgehe. „Das Gerücht hält sich immer noch“, meint die Wirtin. Dass bei ihr aber oft nur Bockwurst auf der Speisekarte stand, ist dagegen wahr. „Wir waren ja keine Speisegaststätte, sondern nur eine Gaststätte mit bierbegleitenden Speisen“, erklärt sie.

Die Wendezeit erwies sich für die Wirtsleute schwieriger als erwartet. „Als Privater hatten wir keine Unterstützung. Bei den Konsum- und HO-Gaststätten sah das anders aus, die hatten ihre Brauereiverträge ,von oben‘ bekommen. Wir mussten uns selbst kümmern“, weiß Michael Richter noch gut.

Also machte er sich auf in Richtung Westen, sprach bei der Feldschlösschen-Brauerei vor. „Ich bekam Bierdeckel und -gläser. Und dann habe ich gesehen, wie Arbeiter Bier weggekippt haben, nur weil die Büchsen ein wenig angeschlagen waren. Das konnte ich gar nicht glauben. Für fünf Mark haben sie mir dann den Hänger vollgeladen, und am Abend gab es dann in der Gaststätte Richter Feldschlösschen-Dosenbier, aber aus passenden Gläsern auf passenden Deckeln.“

Mit der Wende, so Michael Richter, seien auch neue Gäste gekommen. „Viele aus dem Westen, die in den Osten gekommen waren, um hier zu arbeiten, sind bei uns eingekehrt. Da gab es immer reichlich Neuigkeiten“, erzählt er und erinnert sich noch gut an ein konspiratives Treffen, in dessen Nachgang Werner Münch 1991 den damaligen CDU-Ministerpräsidenten Gerd Gies „beerbte“.

Unvergessen bleibt für ihn auch die Grundsteinlegung für den Otto-Versand. „Wir hatten das Catering übernommen und sollten wie alle anderen Angestellten auch ein Otto-Shirt tragen. Das wollten wir nicht, haben uns aber unter einer Bedingung dazu bereit erklärt: Otto sollte auf die Versandpakete ,Gaststätte Richter. MR, wohl bekomm’s.‘ drucken. Das wollten sie aber nicht – und wir mussten kein Otto-Shirt tragen.“

Weitere Zeugnisse aus dem bewegten Leben der Gaststätte haben Birgit und Michael Richter in 16 Fotoalben gesammelt. An den Wänden in der Gaststube finden sich Fotos und Dokumente aus der Familiengeschichte. Doch vieles haben sie einfach nur in Erinnerung und wird nicht an die große Glocke gehängt. „Wir sind ja für unsere Gäste auch so etwas wie eine Beichtmutter oder ein Beichtvater“, sagt die Wirtin.

Diskretion ist eben auch Pfund, mit dem die Richters wuchern können. Das wissen auch ihre Gäste. „Sonst wären sie uns auch nicht so treu geblieben. Skatrunden oder Handwerker-Stammtische, selbst Gäste, die in jungen Jahren, zum Beispiel aus der damaligen Agraringenieurschule, regelmäßig bei uns waren, kommen immer wieder, veranstalten hier sogar ihre Klassentreffen“, freut sich Michael Richter über die Treue.

Nur an eines müssen sich die Gäste halten, egal ob neu oder alteingesessen: „Hier hat sich der Gast so zu verhalten, dass sich der Wirt wohl fühlt“, haben Michael und Birgit Richter einen alten Familienspruch übernommen.