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Test Haldensleben aus der Sicht eines Blinden

Das Blindenleitsystem auf dem Boden, Blindenschrift und Ampeln mit Signal – all das soll sehbehinderten Menschen helfen, den Weg durch die Stadt zu finden. Aber was bedeuten die Rillen auf dem Boden genau und wie gut kommt ein Blinder in Haldensleben zurecht?

Von Lena Bellon 07.07.2021, 17:39
Frank Brehmer, Landesbeauftragte des Blinden- und Sehbehindertenverbands Sachsen-Anhalt, prüft das Blindenleitsystem von Haldensleben.
Frank Brehmer, Landesbeauftragte des Blinden- und Sehbehindertenverbands Sachsen-Anhalt, prüft das Blindenleitsystem von Haldensleben. Foto: Lena Bellon

Haldensleben - „Ich habe Kaffee gerochen, hier muss ein Café in der Nähe sein. Da können wir eine kleine Pause einlegen“, sagt Frank Brehmer, der an einem warmen Vormittag Haldensleben erkunden will. Er ist Landesbeauftragter für Umwelt, Verkehr und Sport des Blinden- und Sehbehindertenverbands Sachsen-Anhalt und ist selbst erblindet. Während sehende Personen einfach Beschilderungen folgen, um sich in einer fremdem Stadt zu orientieren, sind blinde Menschen auf ein ausgeprägtes Blindenleitsystem oder Begleitpersonen angewiesen. Doch wie gut ist Haldensleben aufgestellt in Sachen Blindenleitung und wo muss nachgebessert werden?

„Wenn ich mich alleine in eine fremde Stadt begebe, ist Vorbereitung das Wichtigste“, berichtet Frank Brehmer. „Ich frage bei der Deutschen Bahn nach einem Begleitservice, muss mir genaue Treffpunkte vereinbaren und weiß nie, wie gut das Blindenleitsystem in der jeweiligen Stadt ist.“ Der Schönebecker kennt seine eigene Stadt sehr gut, aber in fremden Städten hat er am liebsten eine sehende Begleitung dabei.

Als er am Bahnhof in Haldensleben ankommt, ist er zunächst orientierungslos. Es gibt an dem Bahnsteig kein Blindenleitsystem, das ihm den Weg nach draußen zeigt: „Das muss ein alter Bahnhof sein. Die neuen Bahnhöfe haben alle ein ausgeprägtes Leitsystem, selbst an kleinen Bahnsteigen.“ In Haldensleben hingegen ist er auf Hilfe angewiesen, damit er zum Busbahnhof kommt. Dort ist dann ein Leitsystem vorhanden: Die Rillen zeigen die Richtung an, die genoppten Platten eine Abzweigung. Theoretisch muss es auch eine sogenannte Sperrlinie geben, die signalisiert, dass es vom Bordstein jetzt auf die Straße geht – diese sind aber teilweise gar nicht oder nur veraltet vorhanden. An dem Bussteig gibt es auch Felder, die den Einstiegspunkt für Sehbehinderte signalisiert. „Super, dass es das hier gibt. Nur leider sind die Platten mit den Rillen in die falsche Richtung verlegt“, bemerkt Brehmer lachend.

Gefährliche Ampeln

Während er das Leitsystem erklärt und wie es von einem sehbehinderten Menschen gelesen werden kann, zieht er ein persönliches Fazit der vergangenen fünf Jahre: „Ich bemerke, dass es ein steigendes Interesse in den Städten gibt, gute Blindenleitsysteme zu erschaffen. Ich werde immer häufiger von Planungsbüros kontaktiert, um sie bei der Planung und Umsetzung von solchen Leitsystemen zu unterstützen.“

Aber nicht nur Rillen und Noppen helfen Sehbehinderten dabei, den richtigen Weg zu finden. Vom Bahnhof Richtung Innenstadt laufend nimmt Frank Brehmer die Ampeln an der Kreuzung zur Gerikestraße genauer unter die Lupe: „Hier fehlt ein Auffindungssignal. Eigentlich hört man bei Ampeln ein leichtes Ticken, damit ein Sehbehinderter sie findet. Hier gibt es nicht einmal einen Drücker, der mir sagt in welche Richtung ich über die Straße laufen muss.“ Nur eine der drei Fußgängerampeln gibt ein Geräusch von sich, als sie grün wird. „Ohne eine sehende Begleitung würde ich hier nicht die Straße überqueren. Das ist einfach zu gefährlich, hier gibt es kein Leitsystem auf dem Boden, die Straße ist zu laut und befahren“, erklärt der Schönebecker.

Eine Nachfrage bei der Stadt Haldensleben ergibt, dass Barrierefreiheit immer ein Thema sei, an dem gearbeitet wird. „Im Moment gibt es aber keine aktuellen Projekte, die weitere Blindenleitsysteme oder sicherer Fußgängerampeln für Sehbehinderte fördern“, weiß Stefanie Stirnweiß, die in der Abteilung Stadtmarketing in Haldensleben zuständig ist. „Die örtliche Selbsthilfegruppe für Sehbehinderte hat aber immer die Möglichkeit eigene Projekte und Ideen vorzustellen, wie die Stadt mehr Komfort und Sicherheit für Sehbehinderte bieten kann.“ Diese würde dann in der Regel auch gefördert werden.

Die Hagenstraße gefällt Frank Brehmer, weil sie sehr ruhig ist und er den Duft von Kaffee liebt. „Ich würde mir generell mehr Einheit in den Blindenleitsystemen wünschen. In manchen Städten sind sie sehr neu und ausgeprägt und in anderen kaum vorhanden oder veraltet und unsicher“, erzählt Brehmer. „Ich will immer so eigenständig wie möglich sein und wenig auf Hilfe angewiesen. Aber in vielen Situationen brauche ich einfach die Hilfe einer sehenden Person.“ Die vielseitigen Optionen der Sprachsteuerung auf dem Smartphone sei eine riesige Erleichterung und ein weiterer Schritt zur Selbstständigkeit: Bahnverbindungen raussuchen oder E-Mails vorlesen übernehme das Smartphone für ihn.

Unbekannte Orte meiden

Unbekannte Orte aufsuchen, Lebensmittel einkaufen oder ein Besuch im Einkaufscenter seien immer eine große Herausforderung für Frank Brehmer. Der Weg zur Bürgerinformation und zum Rathaus ist ebenfalls für eine sehbehinderte Person schwer alleine zu finden: Auf dem Marktplatz keinerlei Blindenleitsysteme und auch keine Fußgängerampel oder ein Zebrastreifen, um sicher die Straße überqueren zu können.

„Ich würde mir mehr Einfühlsamkeit und Interesse von den Mitmenschen wünschen. Dass sie erkennen wenn jemand Hilfe braucht, aber einem auch die Hilfe nicht aufzwingen wollen oder mich ungefragt berühren.“ Sich aber wegen seiner Erblindung auszuruhen oder wegen Rückschlägen aufzugeben ist für Brehmer keine Option: „Musik hören oder zu Hause herumsitzen ist mir viel zu langweilig. Ich bin viel ehrenamtlich tätig.“ Er ist politisch aktiv, Mitglied des Bauausschusses, Ehrenamtlicher Sterbebegleiter und Organisator für neue Sportarten im Behindertensportverein – Langeweile kommt bei ihm selten auf. „An den Wochenenden mache ich oft Ausflüge mit meiner Partnerin. Wir wandern im Harz oder gehen in Museen, in denen ich einiges anfassen darf“, berichtet der Landesbeauftragte.