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True Crime Börde Spektakuläre Kriminalfälle: Todesschüsse auf einen Polizisten

In der Serie „True Crime Börde“ blickt die Volksstimme zurück auf einige der größten Kriminalfälle im Landkreis Börde in den vergangenen Jahrzehnten. Teil 1 dreht sich um die tödlichen Schüsse auf einen Volkspolizisten der DDR im Jahr 1972.

Von Bernd Kaufholz 20.07.2023, 06:15
Der von Klaus Jemanke in seiner Küche niedergeschossene Abschnittsbevollmächtigte (ABV) Karl Laue. Der vorbestrafte Täter hatte Angst, von dem Volkspolizisten wieder ins Gefängnis gebracht zu werden.
Der von Klaus Jemanke in seiner Küche niedergeschossene Abschnittsbevollmächtigte (ABV) Karl Laue. Der vorbestrafte Täter hatte Angst, von dem Volkspolizisten wieder ins Gefängnis gebracht zu werden. Repro: Bernd Kaufholz

Seehausen - Es ist der 28. August 1973 im Hinrichtungsgefängnis der DDR in Leipzig-Connewitz. Kurz vor Morgengrauen wird ein 24-Jähriger in den Todestrakt geführt. Dort wird ihm erklärt, dass das Urteil nun vollstreckt werde. Wenige Minuten später fassen zwei Begleiter Klaus Jemanke (Name geändert) links und rechts am Arm und bringen ihn in einen Nebenraum. Es fällt ein leiser Schuss. Der Verurteilte bricht nach dem Genickschuss tot zusammen.

Eineinhalb Jahre zuvor, 12. Februar 1972, gegen 23 Uhr: Klaus Jemanke hat im Seehäuser Ratskeller acht Bier und drei Kaffeelikör getrunken. Mit drei Bekannten verlässt er das Lokal. Unter ihnen Rudi Galle (Name geändert). Auf dem Heimweg zum Breiten Weg im Zentrum der Bördestadt kommt es wegen Nichtigkeiten zur Rangelei zwischen den Angetrunkenen. Dabei zerreißt Jemanke den Anorak von Galle.

Suizid-Versuch mit „Hydropur“-Fleckenwasser

Kurz darauf geht Jemanke die 15 Stufen zur Küche des Fachwerkhauses mit Anbau hinauf, in dem er mit seiner Mutter wohnt. Wenig später steht auch Galle in dem Raum. Er beschwert sich lautstark über die kaputte Jacke. Wieder braust Jemanke auf, nimmt zwei Messer aus dem Küchenschrank und dringt auf sein Gegenüber ein. Die Mutter des 22-Jährigen schreit laut auf. Das stoppt den Sohn. Der Hilfsarbeiter aus dem Hydraulikwerk Seehausen lässt sich die Messer entwinden.

Nachdem Galle wütend und mit der Drohung „Dich zeig ich an!“ die Wohnung verlassen hat, nimmt Klaus Jemanke eine Flasche „Hydropur“-Fleckenwasser aus dem Regal und stürzt die scharfe Flüssigkeit in einem Zug herunter. Er greift nach einer zweiten Flasche. Im selben Augenblick krümmt er sich: „Mutti, Mutti, ich verbrenne!“

Der junge Mann will sich umbringen, weil er weiß, dass ihn eine Anzeige hinter Gitter bringen wird. Denn er gilt in der Kleinstadt als Rowdy. Acht Monate zuvor ist er gerade noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen.

Überfall auf zwei Rentnerinnen und Randale in der Kneipe

Lucie Jemanke (Name geändert) gibt ihrem Sohn Kondensmilch zu trinken. Nachdem er sich übergeben hat, geht es ihm besser.

Jemanke hatte am 21. Februar 1971 in Seehausen zwei Rentnerinnen überfallen und misshandelt und danach in einer Gaststätte des Ortes randaliert, dabei den Leiter mit einem Messer bedroht. Als der ABV Ekkehard Hagel (Name geändert) eintraf, bedrohte der Schläger den Polizisten mit einer Schere und entriss ihm die Dienstwaffe. Erst als ein VP-Helfer eingriff, gelang es den angetrunkenen Wüterich zu bändigen.

ABV hatte den Rowdy auf dem Kieker

Am 30. Juni 1971 erhielt der Seehäuser wegen vorsätzlicher „Körperverletzung und Beschädigung sozialistischen Eigentum“ einen Strafbefehl über 600 Mark. Das war jedoch nicht das erste Mal, dass der Bohrmaschinist negativ aufgefallen war. Ein Ordnungsstrafverfahren, weil er mit einem Luftgewehr auf Passanten geschossen hatte, weitere wegen ruhestörenden Lärms und ein Ordnungsgeld wegen „Missachtung eines Verkehrsschildes“.

Zumeist war es Polizei-Unterleutnant Karl Laue (Name geändert), Abschnittsbevollmächtigter (ABV) der Volkspolizei im Ort, der den jungen Mann am Kanthaken nahm. In Seehausen war es bald herum: Laue hatte einen Rochus auf den Rowdy. Er sehe den Unruhestifter am liebsten hinter Gittern. Und genau das befürchtet Jemanke, als der ABV am 13. Februar 1972, kurz vor 11 Uhr, in der Küche steht.

Täter entwaffnet Polizisten

Jemanke empfängt den Mann in der grünen Uniform mit den Worten: „Was willst du blödes Schwein hier?“ Das macht das Maß beim ABV voll: „Was war gestern nach der Kneipe los? So geht das mit dir nicht weiter“, schreit Laue, dreht sich um und will wieder gehen. „Die Sache habe ich sowieso schon dem Kreis gemeldet“, fügt er an, da bekommt der 59-Jährige den ersten Schlag. Er wehrt sich, wird jedoch niedergeschlagen. Jemanke reißt ihm die Dienstwaffe, eine Makarow, aus der Pistolentasche.

Der Polizist versucht sich am Arm des jungen Mannes hochzuziehen. Der schleudert ihn mit dem Rücken gegen den Küchentisch. Dann drückt er aus etwa einem Meter Entfernung ab.

Tödliche Schüsse aus der Dienstwaffe

Da der ABV keine Reaktion zeigt, schießt er in die Wand, um zu testen, ob Platzpatronen in der Waffe sind. Als der 22-Jährige noch interessiert das Einschussloch im Mauerwerk betrachtet, hört er Laue stöhnen: „Frau Jemanke, ich sterbe, Hilfe, Hilfe, jetzt hat er mich in den Bauch geschossen.“

Der Polizist taumelt durch die Küche, hält sich den Bauch. Da schießt der Mörder ein zweites Mal – aus eineinhalb Metern in den Rücken. Der Grauhaarige fällt auf die Türschwelle.

Mord wird als „Angriff auf den Staat“ deklariert

Weil das Opfer ein Polizist ist und somit nach DDR-Rechtssprechung ein „Angriff auf den Staat“ vorliegt, übernimmt die Ermittlungsabteilung der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sehr schnell die Untersuchungen. Wer der Täter ist, liegt auf der Hand. Zustellerin Lucie Jemanke, die dabei war, als ihr Sohn schoss, hat Alarm geschlagen.

Während die Großfahndung läuft, werden im Breiten Weg Spuren gesichert. Der Tote in Polizei-Winteruniform liegt zwischen Flur und Küche auf der rechten Seite. Die MfS-Ermittler finden auf dem Fußboden ein Pistolenmagazin ohne Patronen, eine 9-Millimeter-Hülse, zwei graue Lederhandschuhe, eine Pelzmütze.

Bei den Verletzungen handelt es sich um einen Durch- und einen Steckschuss. Das erste Projektil blieb im vierten Lendenwirbel stecken, das zweite zerriss die Körperschlagader und verletzte das Rückenmark. Der Tod durch Verbluten, ergibt die Obduktion, trat nach wenigen Minuten ein.

Flucht auf gestohlenem Motorrad

Klaus Jemanke ist auf der Flucht. Zu Fuß geht er bis nach Dreileben, bedroht dort ein Ehepaar mit der Makarow des ABV und klaut deren Motorrad.

Die Ermittlungen hat derweil der Bezirksstaatsanwalt, Abteilung I A/B, zuständig für Straftaten mit politischem Hintergrund, übernommen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass das Verbrechen nicht allein als Mord eingestuft wird. Doch davon weiß der Flüchtende nichts.

Klaus Jemanke fährt von Dreileben nach Groß Rodensleben, dann weiter über Klein Rodensleben, Niederndodeleben, Irxleben und Olvenstedt bis Magdeburg. Dort nimmt er den Weg über die Innenstadt, die Berliner Chaussee, Biederitz, Gerwisch und Möser bis zur Autobahnauffahrt Schermen. Zwanzig Meter hinter der Auffahrt nach Berlin stellt er das Motorrad am Waldrand ab. Er weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll. Eine knappe halbe Stunde zermartert sich Jemanke das Gehirn, doch er ahnt, dass er keine Chance hat. Er will sich erschießen. Um zu überprüfen, ob die Waffe noch funktioniert, drückt er in Richtung Wald ab. Doch dazu, sich selbst den Lauf an die Schläfe zu setzen, fehlt ihm der Mut.

Unbekannter wird zum „Beichtvater“

Der 22-Jährige fährt zurück nach Schermen. An einem Feldweg trifft er Klaus Niemann (Name geändert). Der ihm völlig Unbekannte wird zum „Beichtvater“ für den Mörder. Er gesteht dem Mann seine Tat und sagt zum Schluss: „Da läuft noch so’n Schwein rum, das ich abknallen möchte, der zweite ABV in Seehausen, Hagel.“ Niemann ist geschockt, behält jedoch die Nerven. Es gelingt ihm, Jemanke zu überreden, sich zu stellen. Eine halbe Stunde später wird Jemanke festgenommen.

Der Achtklassenschüler mit der abgebrochenen Malerlehre kommt in die MfS-Untersuchungshaftanstalt Magdeburg-Neustadt. Ihm wird vorgeworfen, „die Grundlagen der DDR angegriffen und in Tateinheit einen Menschen getötet zu haben“.

Tat hat Folgen für Staatsanwalt und Polizei

In der ersten Vernehmung gesteht er die Tat. Wenige Tage später wird er mit Blaulicht ins Haftkrankenhaus von Leipzig-Meusdorf eingeliefert: Die beginnende Zersetzung der Leber wird festgestellt, eine Spätfolge seines Selbstmordversuchs mit Fleckenwasser vier Tage zuvor. Am 27. Februar schreibt Jemanke aus der Klinik an seine Mutter: „Entschuldige bitte, dass ich dir so viel Kummer mache, wenn ich es aber auf irgend eine Weise wiedergutmachen kann, werde ich es versuchen.“ Der Brief wird vom MfS nicht weitergeleitet.

Der Mordfall hat Folgen. Auf Veranlassung der MfS-Bezirksverwaltung erhält der Wanzleber Kreisstaatsanwalt eine Rüge und im Volkspolizeikreisamt der Bördestadt gibt es eine „prinzipielle Auswertung und Überprüfung“. Grund dafür ist der Vorfall ein Jahr zuvor, bei dem Jemanke schon einmal einem ABV die Waffe entrissen hatte und mit einer Geldstrafe davongekommen war.

Berufung und Gnadengesuch abgelehnt

Jemanke stirbt nicht an der Selbstvergiftung. Als es ihm besser geht, wird er nach Magdeburg zurückverlegt. Bei seiner letzten von 32 Vernehmungen am 7. März unterschreibt Jemanke ein umfassendes Geständnis. Am 23. März 1973 spricht die Vorsitzende des I. Strafsenats des Bezirksgerichts Magdeburg das Urteil: „Wegen Mordes und Verstoßes in Tateinheit mit Terror in besonders schwerem Fall, versuchten Mordes und Verstoßes gegen das Waffengesetz“ wird Klaus Jemanke zum Tode verurteilt.

Die Berufung des Rechtsanwalts, das Urteil in lebenslange Haft umzuändern, hat keinen Erfolg. Auch ein Gnadengesuch wird abgelehnt.

Bernd Kaufholz ist Volksstimme-Journalist und Buchautor. Neun Bücher über historische Verbechen hat er seit 1999 geschrieben. „Die Todesschüsse auf den ABV“ ist  im Buch „Die Rohrleiche von Graben 13“ zu finden, erstmals erschienen im Mitteldeutschen Verlag.
Bernd Kaufholz ist Volksstimme-Journalist und Buchautor. Neun Bücher über historische Verbechen hat er seit 1999 geschrieben. „Die Todesschüsse auf den ABV“ ist im Buch „Die Rohrleiche von Graben 13“ zu finden, erstmals erschienen im Mitteldeutschen Verlag.
Foto: Vivian Hömke

Für zwei unbeteiligte Seehäuser hat der Mordprozess ein Nachspiel. Bürgermeister Gerhard Schildt und der Sekretär des Rates der Stadt, Walter Brennecke, hatten das Todesurteil im Seehäuser „Ratskeller“ als ungerecht kritisiert. Man hätte berücksichtigen müssen, dass der ABV „den Jemanke bis zur Weißglut gereizt hat“. Beide meinten, „15 Jahre hätten gereicht“. Ein Kraftfahrer der SED-Kreisleitung Wanzleben denunzierte die Funktionäre am nächsten Tag. Umgehend wurden sie vor die Kreisparteikontrollkommission zitiert und ihrer Ämter enthoben. Beide durften sich „in der Produktion bewähren“ – Schild im VEB Saat- und Pflanzgut, Brennecke im Hydraulikwerk Seehausen.