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Beschuss Sandau war eine Trümmerwüste

Zehn Minuten lang läuteten am Ostermontag in Sandau die Glocken: Um jene Uhrzeit begann am 13. April 1945 der Beschuss der Stadt.

Von Ingo Freihorst 19.04.2020, 18:00

Sandau l Vor und nach dem Geläut erklangen vom Kirchturm Trompetentöne, vorgetragen vom Pfarrer Hartwig Janus. Das Signal aus der „Sandauer Kirchturmmusik“ wurde dabei verfremdet vorgetragen.„Ich habe es sozusagen auf den Kopf gestellt, so wie damals auch unsere Stadt auf den Kopf gestellt wurde“, erklärt der Pfarrer. Er hatte in dem Buch „Das Wissen der Region“ ebenfalls über die dramatischen Tage berichtet, als Zeitzeugen befragte er dazu Rosel Warnstadt und Ernst Busse.

Bis heute nicht genau geklärt sind die Ursachen, welche damals zur fast völligen Zerstörung der Stadt führten. So hatte der einstige Havelberger Pfarrer Hanns-Joachim Fincke kurz nach dem Krieg von einem Verwundeten erfahren, dass die im Sandauer Wald verschanzte Waffen-SS einen amerikanischen Parlamentär erschossen hatte. Zudem wurden in der Stadt bereits gehisste weiße Fahnen auf Befehl des Stadtkommandanten wieder eingeholt. Auf deren Hissen stand die Todesstrafe.

Ernst Busse erinnerte sich noch an die Anfänge: Am 13. April 1945 um 13 Uhr schießen amerikanische Panzer vom anderen Elbufer auf das bislang unversehrte Städtchen. Er war gerade am Deich, hatte die deutschen Soldaten mit Mittagessen versorgt. Die Geschosse schlagen auf dem Fährdamm ein, der Fährmann setzt rasch nach Sandau über und das Fahrzeug an Land. Danach werden die beiden Mühlen unter Beschuss genommen.

Am 14. April, einem Sonnabend, schießt um 9.30 Uhr erstmals die auf der anderen Elbseite zwischen Lindtorf und Iden im Halbkreis aufgestellte Artillerie auf Sandau, das Kirchturmdach zersplittert. Anderntags um 11 Uhr geht der Beschuss weiter, der Turm verliert seinen Helm. Das Rathaus liegt am 16. April unter Beschuss, vier Häuser werden zerstört. Am 17. April ist die Steinstraße dran, am 18. April folgt das gesamte Stadtzentrum mit Stein-, Schleusen- und Stavenstraße.

Tiere krepieren qualvoll, denn die Panzersperren verhindern deren Entkommen aus der brennenden Stadt. Überall liegen umgestürzte Bäume und Strommasten umher. Die Sandauer flüchten in die Feldmark oder zu Verwandten in umliegende Orte. Am letzten „Führergeburtstag“, dem 20. April 1945, sind Büsche und Rosen schwarz von Flugasche.

Otto Bierfreud, Wolfgang Bohn, August Cunow, Karl Draht, Willi Herkt, Manfred Herm, Max Kuckenburg, Georg Neumann, Adolf Piehl, Adolf Plank, Max Siebert, Heinrich Schmücker, Karl-Richard Schneider und Richard Wegener starben direkt beim elftätigen Artilleriebeschuss oder kurz danach an ihren Verletzungen. Allein sechs der Genannten fielen am 17. April beim Löschen – ihre Motorspritze erhält einen Volltreffer. Mit vorgehaltener Pistole waren sie zu den sinnlosen Löscharbeiten gezwungen worden.

Als Sandau flächendeckend brennt, flüchtet auch die Familie von Ernst Busse – doch Panzersperren verhindern die Durchfahrt des Fuhrwerks. Ein Ausweg findet sich schließlich am Schloss, aber auch hier blockieren umgestürzte Lichtmasten und Bäume die Wege. Durch den Jederitzer Wald führt die wilde nächtliche Flucht bis nach Kuhlhausen. Von dort blickt der damals 12 Jahre alte Ernst Busse in Richtung Sandau: „Am Horizont – alles blutrot!“

Nach dem Beschuss setzten die Amis ihre Jeeps mit kleinen Fähren über. Später ersetzte eine Pontonbrücke die zerschossene Fähre.

Das 18. Regiment der 6. polnischen Panzerdivision erreicht am Morgen des 4. Mai die Elbe südlich von Sandau. Östlich davon stößt das 16. Regiment jedoch auf starken Widerstand. Erobert wird Sandau schließlich mit Hilfe sowjetischer Verbände der 212. Division des 80. Korps der 61. Armee, welche aus Havelberg kommend vorstoßen. Zwischen Sandau und Schönfeld ist nun „feindfreies Gebiet“.

Der Abtransport der Trümmer dauerte bis in die 1950er Jahre. Der Genthiner Stadtplaner Gerhard Schmidt vermaß auf Anordnung des Landkreises Jerichow II die zerstörte Stadt und erstellte ein Modell für den Wiederaufbau. Doch zu dessen Umsetzung kam es nie: Die Sandauer wollten nicht warten und behalfen sich selbst. Aus Ställen und Scheunen wurden Wohnhäuser, noch heute wohnt manch Sandauer im Garten. Oder am Stadtrand, wie Gerhard Bienemann. Dort, wo im Stadtzentrum sein zerstörtes Elternhaus gestanden hatte, sollte beim Wiederaufbau ein Hotel hin. Also blieb die Familie in der Königsallee.

Eine Zeitzeugin war auch Erika Braun, sie hatte das Grauen in einem Gedicht festgehalten. Unter anderem ist darin zu lesen: „Das Schlimmste jedoch, ich hab‘s nie vergessen, wir haben plötzlich kein Haus mehr besessen. Kein Tisch, keinen Stuhl, keinen Schrank voller Tassen, es kam die Armut, wir konnten‘s nicht fassen. Wir wühlten im Schutt, wir wollten was retten, wir fanden nur verkohlte Betten... Versunken ist alles in Asche und Schutt, die schöne Stadt zerstört und kaputt. Wie gerne tät ich sie meinen Nachkommen zeigen, würde sie wie Phönix aus der Asche steigen.“