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Förderschule Ein Tag in der Oberstufe

Einen ganz normalen Tag in der Klasse meiner Mutter in der Schule "Am Lindenweg" in Havelberg wollte ich miterleben.

Von Elisabeth Schneider 12.11.2017, 08:38

Havelberg l Meine Mutter arbeitet als Lehrerin für geistig und körperlich behinderte Kinder in der Förderschule „Am Lindenweg“. Auch wenn der Tag nicht wirklich normal verlief, habe ich viel über das Arbeiten mit diesen besonderen Kindern gelernt.Um halb acht am Morgen betreten wir das Schulgebäude, um kurz darauf die Kinder in Empfang zu nehmen. Viele kommen mit dem Schulbus, werden von ihren Eltern gebracht oder kommen sogar allein zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Zuerst wird in den Klassen gemeinsam gefrühstückt. Dafür bringt jedes Kind seine gefüllte Brotbüchse von zu Hause mit. Am Tisch wird angeregt geplaudert. Zum Beispiel über das vergangene oder anstehende Wochenende. So sind die Kinder dazu aufgefordert, zusammenhängend zu erzählen und Erlebtes zu reflektieren. Außerdem üben Mitschüler gleichzeitig, darauf einzugehen und zu reagieren, so dass Unterhaltungen entstehen.

Nach dem Frühstück wird der Tisch natürlich abgeräumt. Die Schüler sind nach Plan dazu eingeteilt, abzuwaschen oder abzutrocknen. Der Tisch muss abgewischt werden. Danach ist ein wenig Zeit für einen Gang auf die Toilette und für das Zähneputzen, bevor der Unterricht beginnt. Täglich wird als erstes die Wettertabelle ausgefüllt. Die Schüler müssen das Datum eintragen und Temperatur und Wetterlage einzeichnen. Dazu gibt es vorgedruckte Arbeitsblätter. Da am Morgen die Konzentration noch frisch ist, beginnt Klassenlehrerin Sabine Schneider, die seit vielen Jahren an der Förderschule unterrichtet, nun mit den Kindern die Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen zu trainieren. An diesem Tag steht Rechnen mit Geld auf dem Plan.

Es ist wichtig, dass die Schüler auf einem grundlegenden Niveau mit Geld umgehen können, damit sie in der Lage sind, den Wert von verschiedenen Geldstücken zu erfassen und im Supermarkt wissen, was sie für das Geld in ihrer Tasche bekommen können. Darum geht die Klasse auch regelmäßig gemeinsam für den Hauswirtschaftsunterricht einkaufen, um die Fähigkeiten der Schüler zu trainieren.

Ein wichtiger Unterschied zu anderen Schulformen ist, dass an der Förderschule selten Frontalunterricht abgehalten wird. Hier ist es üblich, dass jeder Schüler auf einem anderen Niveau lernt und speziell gefördert und gefordert wird. So gibt es zum Beispiel in der Klasse meiner Mutter einen Schüler, der im Zahlenbereich bis 1000 verschiedene Aufgabentypen im Kopf löst. Andere dagegen rechnen mit oder ohne Hilfsmittel bis 100 und manch einer benötigt noch die Hände zum Abzählen. Hier darf keiner unter- oder überfordert sein.

Das unterschiedliche Niveau der Schüler bringt auch Vorteile mit sich. Während Lara und Antonia sich gegenseitig die Arbeitsblätter kontrollieren, kann Nicole ihrer Sitznachbarin Vanessa beim Rechnen helfen. So hat Sabine Schneider auch Zeit, bei einzelnen Schülern mit Problemen mal einen Moment genauer zu gucken und Dinge erneut zu erklären. Hilfreich ist auch das Rechengeld, das die Schüler oft benutzen, um Beträge wirklich vor Augen zu haben.

Nach dem ersten Block qualmen allen die Köpfe. Auch nach einer halben Stunde Hofpause kann man kaum jemanden für eine weitere Stunde Mathe begeistern. Glücklicherweise steht für den zweiten Block Hauswirtschaft an. Das Mittagessen wird also selber gekocht. Doch auch dabei sollen die Schüler etwas für ihren Alltag mitnehmen. „Uns ist es wichtig, den Kindern einfache Dinge beizubringen. Es hat wenig Zweck, ihnen zu erklären, wie man komplizierte Gerichte zubereitet. Das würden die meisten in ihrem späteren Leben nicht tun“, erklärt meine Mutter. Diesmal gibt es Nudelsuppe und Paradies­creme als Nachspeise. Zunächst müssen die Schüler die Rezepte durchlesen und wiedergeben, was an Zutaten und Geräten benötigt wird. Hier lauert schon die nächste Lektion für den heutigen Schultag. Was wiegt wie viel und wo ist wie viel drin? Mit einer Küchenwaage und Messbechern erfassen die Schüler verschiedene Mengen und lernen die Maßeinheiten. Sie müssen außerdem verstehen, was ein ganzer, halber oder viertel Liter ist, auch wenn das schon etwas schwierig sein mag.

Die neun Mädchen und Jungen dieser Klasse sind zwischen 13 und 16 Jahre alt. Darum steht an der Tür zum Klassenraum auch „Oberstufe/Berufsschulstufe“. An der Schule werden die Kinder zwar vorrangig nach ihrem Alter in Klassenstufen eingeteilt, aber manchmal auch nach ihrer Reife und sozialen Kompetenz. „Seit Jahren ist diese Klasse eine unglaublich harmonische Gemeinschaft“, meint meine Mutter. Jeder nimmt auf die anderen Rücksicht, man hilft sich gegenseitig und hat gelernt, mit den Eigenarten der Mitschüler klar zu kommen und sie zu akzeptieren.

Dieses Gefühl ist übrigens in der ganzen Schule präsent. Bei so einer Schule mit 59 Schülern in acht Klassen kennt jeder jeden und man hat keine Scheu voreinander. Dies ist für einen Außenstehenden bemerkenswert, da sich auch mehrfach geschädigte Schüler hier befinden. In der Klasse von Sabine Schneider gibt es zum Beispiel ein Rollstuhlkind, welches von den anderen Schülern immer so gut wie möglich integriert wird, obwohl es nicht sprechen kann. Sie nehmen das Mädchen zur Hofpause mit nach draußen und beschäftigen sich mit ihr.

Nun steht die Nudelsuppe auf dem Tisch und alle plaudern auch beim Essen. Es schmeckt allen sehr gut und es wird nochmals besprochen, wie die Mahlzeit zubereitet wurde. Wenn alle fertig sind, geht es wieder ans Aufräumen und Abwaschen, doch durch gute Zusammenarbeit geht auch das ganz schnell.

Der letzte Block ist immer mit Unterricht verschiedenster Art gefüllt. Gestalten, Musik, Heimatkunde, Bewegung oder anderes sind dann für den Nachmittag geplant. Heute hat meine Mutter mehrere Zeitschriften mitgebracht, in denen die Kinder nach Abbildungen markanter Augen suchen und diese ausschneiden sollen. Damit möchte Schulleiterin und Kunstlehrerin Petra Heidrich am nächsten Tag eine Collage basteln. Wer schon früher fertig ist, darf noch malen oder puzzeln.

Nach dem Aufräumen ist es auch schon Zeit zum Anziehen. Die Schüler packen ihre Taschen zusammen und sammeln sich bis zum Klingelzeichen im Foyer. Um 14.30 Uhr ist der Schultag zu Ende.

Dass dieser Tag nicht ganz normal für meine Mutter und ihre Klasse verlief, lag nicht nur daran, dass sie zwei „Gastschüler“ aus einer Unterstufenklasse mitbetreuen musste, deren Lehrer erkrankt war. Ihre Teamkollegin und größte Unterstützung bei der Bewältigung aller anfallenden Aufgaben des alltäglichen Schullebens, die Pädagogische Mitarbeiterin Ines Leppin, nahm an diesem Mittwoch an einer Fortbildungsveranstaltung in Magdeburg teil. Normalerweise arbeiten die beiden Pädagoginnen gemeinsam mit ihren neun Schülern. Auch die anderen Klassen dieser Schule werden von Teams gefördert, die sich aus Lehrern und Pädagogischen Mitarbeitern zusammensetzen. Besonders für mich war, dass die Kinder sich gegenseitig akzeptieren, obwohl sie so verschieden und manchmal nicht ganz einfach sind. Davon könnte sich jeder eine Scheibe abschneiden.