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Mauerfall Und plötzlich war alles anders

Als vor 30 Jahren die Mauer fiel, wandelte sich das Leben für viele. Die Havelbergerin Evelin Köhnke sagt: „Und plötzlich war alles anders.“

Von Andrea Schröder 09.11.2019, 00:01

Havelberg l Drogistin mit Leib und Seele. Das war Evelin Köhnke viele Jahre lang. 1971 hatte sie ihre Lehre in der traditionsreichen Havelberger Drogerie Gützkow in der Langen Straße begonnen. Die Eheleute Mayer-Gützkow waren ihre Lehrmeister. „Das, was ich heute bin, habe ich von ihnen gelernt. Er hatte sein Augenmerk auf das Fachliche, sie auf das Kaufmännische“, denkt sie noch heute dankbar an die beiden zurück. Alles hat sie von der Pike auf gelernt. Mit 26 Jahren übernahm sie die Leitung der Drogerie, die 1980 zum Konsum kam.

Sie führte die Drogerie, als wäre es ihre eigene, hatte im Angestelltenverhältnis die Freiheit, selbst zu entscheiden. Sie engagierte sich, als wäre es ihr privates Geschäft. So war es kein Wunder, dass der Wunsch zur wirklichen Selbständigkeit, also endlich frei handeln zu dürfen, immer stärker wurde. Da kam das Bestreben der damaligen DDR in den achtziger Jahren, die Selbständigkeit zu fördern, gerade recht. Evelin Köhnke wollte ihre eigene Parfümerie eröffnen. Ihr Mann Wilfried arbeitete da bereits in der Drogerie mit. In Sandau hatten sie dafür sogar schon die Räumlichkeiten. Und auch die Gewerbegenehmigung. Aber leider keinen Warenfonds.

Sie sagte Sandau wieder ab, fuhr nach Magdeburg, beschwerte sich. „Dann bekam ich meinen Warenfonds, hatte aber keinen Laden, es gab keine freien Geschäfte in Havelberg“, berichtet sie von den Wirren dieser Zeit. Der damalige stellvertretende Bürgermeister half ihr. „In der Scabellstraße machte er das Eckgeschäft, in dem die Deutsch-Sowjetische Freundschaft ihr Büro hatte, frei für mich. Am 23. Februar 1989 war die Eröffnung. Vormittags gab‘s einen offiziellen Empfang, dann kamen die ersten Kunden und standen Schlange. Während mein Spruch immer war, mach mal, das wird schon, war es für meinen Mann eine echte Herausforderung, denn jetzt stand er auch hinterm Ladentisch. Aber wir waren Jäger und Sammler und hatten schon im Vorfeld Ware gebunkert, so hat das Angebot gereicht und wir konnten unseren Kunden was bieten“, berichtet Evelin Köhnke. Durch gute Kontakte wurden die Regale nie leer.

Das noch junge Geschäft lief gut, da kam der 9. November 1989. „Ich werde den Moment nie vergessen. Wir saßen beim Abendessen, als die Nachrichten vom Fall der Mauer berichteten. Das fühlte sich für uns so unwirklich an. Wir waren zunächst wie gelähmt, fragten uns, was ist jetzt mit unserem Laden.“ Doch ging es erstmal normal weiter. Im Dezember stellten sich dann erste Firmen aus den alten Bundesländern vor. Im Januar besuchten Köhnkes die erste Messe. „Das war für uns eine Herausforderung. Wir konnten nur so viel kaufen, wie Geld da war, haben immer wieder kalkuliert und gerechnet.“

Das Geschäft war erst vor wenigen Monaten eingerichtet worden. Der Zufall hatte Köhnkes in die Karten gespielt. Die HO Parfümerie in Magdeburg war renoviert worden. „Wir fuhren hin, suchten aus, was wir brauchten, packten die Glasschübe vorsichtig in Decken. Sechs Lampen durften wir bei der HO kaufen“, erinnert sie sich an die Freude, damals überhaupt etwas bekommen zu haben. „1990 haben wir angefangen, alles umzubauen, den Laden zu vergrößern, um mehr Ware unterzubekommen. Immer wieder fragten wir uns, ob es gelingt. Es gab Höhen und Tiefen.“

Viele liebe Menschen lernten sie kennen, die helfen wollten. Aus der späteren Partnerstadt Verden kamen Leute, die mit Rat und Tat zur Seite standen. „Diese Übergangsphase war echt krass“, sagt Evelin Köhnke.

Dabei denkt sie auch an die gute DDR-Ware, die nun neben den Produkten aus dem Westen stand. Die Kunden waren neugierig auf das Neue, das sie bisher meist nur aus der Werbung im Westfernsehen kannten. Die Preise für die DDR-Produkte gingen runter, vieles wurde vernichtet.

„Am Ende würde ich es wieder so machen“, sagt die Havelbergerin heute. Darauf, dass sie Federn lassen mussten, weil sie in der Semmelweisstraße ein Geschäft für die Kosmetik anmieteten, könnte sie natürlich verzichten. „Das war zum Scheitern verurteilt, es war total unwirtschaftlich.“ Dass sich das Ehepaar, als Wilfried Köhnke 2001 in den Ruhestand ging, entschied, das Geschäft in der Scabellstraße aufzugeben und im eigenen Haus am Camps ein Kosmetikstudio einzurichten, war dagegen die richtige Entscheidung.

Überhaupt hat es Evelin Köhnke nie bereut, diese Dienstleistung anzubieten. Ein Tipp von Verdenern, die zu zwei Standbeinen geraten hatten. Als gelernte Drogistin hatte sie bereits die nötigen Voraussetzungen dafür, musste nur noch die praktische Ausbildung nachholen. „Die Drogistenausbildung war so vielfältig. Davon zehre ich noch heute.“ Ihr Credo, Schönheit ist ganzheitlich und setzt sich aus äußerer Pflege und innerem Wohlbefinden zusammen, gibt sie gern an ihre Kunden weiter.

Mit ihnen plaudert sie aber nicht nur über alles rund um die Kosmetik, sondern ist auch eine gute Gesprächspartnerin, wenn es etwa um Pflanzenschutz und Schädlingsbekämpfung geht. „Unsere Frau Doktor“, sagen so manche. Um sich stets neues Wissen anzueignen, besucht sie Schulungen. Auch, um mit Kollegen im Kontakt zu bleiben. Ans Aufhören denkt sie noch nicht – „die Arbeit macht mir immer noch viel zu viel Spaß“ –, aber langfristig an eine Nachfolge fürs Geschäft. So, wie sie schon früher als Drogistin und später als Kosmetikerin junge Leute ausgebildet hat, ist sie jetzt Coucherin für eine Kosmetikerin, die perspektivisch nach Havelberg kommen könnte.

Wenn sie mit ihrem Mann heute Abend die Nachrichten einschaltet, wird es keine Lähmung geben, sondern die Freude darüber, 30 Jahre in Freiheit leben zu können. „Es haben sich neue Möglichkeiten aufgetan, die wir zu schätzen wissen.“