1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Magdeburg
  6. >
  7. Mein Leben mit dem Asperger Syndrom

Autismus Mein Leben mit dem Asperger Syndrom

Vom introvertierten Kind zum gesprächigen Studenten mit Ordnungsfimmel - der Magdeburger Autist Tom Zinram erzählt seine Geschichte.

Von Anja Guse 08.02.2021, 00:01

Magdeburg l Licht an, aus. An, aus. An, aus. Ständig wiederholt der kleine Tom das Spiel. An, aus. An, aus. Immer und immer wieder. An, aus. Was ist nur mit dem Kind los? Will es seine Eltern provozieren? Oder ist es nur ein Tick? Nein, nichts dergleichen. Tom Zinram ist Autist und hat das Asperger Syndrom. Seine Entwicklung ist gestört.

„Ich war etwa sechs Jahre alt, als meine Eltern die Diagnose bekamen“, berichtet er heute. Wiederholungen gehörten zu seinem Alltag. Probleme in der Kommunikation ebenso. Auf andere Menschen zugehen, sie anlächeln, Freunde finden, das war für den jungen Tom schwierig. Er wollte nicht mit den Nachbarskindern spielen, interessierte sich aber schon früh für medizinische Themen, hörte gern Radio, lernte sämtliche Benjamin-Blümchen-Folgen spielend auswendig – und kam an keinen Lichtschalter vorbei, ohne ihn zu berühren. „Für mich war das alles normal“, erzählt er.

Inzwischen sind mehr als 15 Jahre vergangen. Tom Zinram ist jetzt fast 22 Jahre alt, studiert seit Oktober 2019 Journalismus an der Hochschule, steht Schauspielerin Annette Frier für Interviews für eine ZDF-Serienrolle zur Verfügung, albert mit Freunden herum, bezeichnet sich selbst als offen und humorvoll, ist sehr sportlich, macht seinen Führerschein und lebt in einer 5er-WG mitten im Herzen von Magdeburg.

Lichtschalter lasse er mittlerweile links liegen. Dafür lebe er mit anderen Ticks. „Gläser müssen in einer Reihe stehen, Tassen farblich sortiert werden. Ich mag keine Unordnung. Bei mir muss es sauber sein. Zudem ärgert es mich, wenn Mitbewohner den Herd anlassen. Mit kurzfristigen Veränderungen habe ich Probleme. Und abends muss meine Bettdecke immer gleich liegen, sonst kann ich nicht schlafen und werde unruhig.“

Das klingt kompliziert. Und doch ist es auch bemerkenswert, wie es Tom Zinram bis hierher geschafft hat. War sein Leben bislang geprägt von Therapien, zahlreichen Hürden im Alltag, angstvollen Begegnungen mit fremden Menschen, überraschenden Ideen für die Lebensplanung und hochgesteckten Zielen, hat er nun seinen Weg gefunden. Er ist überzeugt: Ein eigenständiges Leben ist auch mit Autismus möglich. Und er will Gleichgesinnten Mut machen. Deshalb erzählt er öffentlich seine Geschichte:

Tom Zinram wurde 1999 geboren und wuchs im beschaulichen Bad Lauterberg (Niedersachsen) im Harz auf. „Ich war in der Grundschule ein introvertiertes, sehr zurückgezogenes Kind“, erinnert er sich. Nach seiner Diagnose – „ich konnte damit nichts anfangen“ – musste er regelmäßig zur Therapie. „Anfangs habe ich dort viel gespielt und ausprobiert. Ich sollte Dinge bauen. Doch irgendwann wurde es strenger.“ Später standen Förderung von Sozialkompetenzen und Motorik auf dem Plan. Tischmanieren, aber auch das Zubereiten eines Imbisses wurden geübt – nicht mehr allein, sondern gemeinsam mit anderen Jugendlichen.

Etwa zehn Jahre habe ihn die regelmäßige Therapie begleitet. „Es war auch ein Ritual“, sagt er. In seinem letzten Jahr 2017 habe eine Art Lebenstraining auf dem Programm gestanden. „Ich habe zum Beispiel gelernt, täglich die Post zu öffnen.“ Aufgaben, die für andere selbstverständlich klingen.

Strukturen sind wichtig im Leben des Autisten. Bis heute. „Jeden Morgen überlege ich mir, was ich heute essen will und was ich dafür brauche“, erzählt er. Er versuche ganz genau zu planen, bis wann er welche Aufgaben erledigt haben muss. Nur so könne er seinen Alltag bewältigen. „Allerdings ist die Zeiteinteilung für mich immer noch schwierig.“ Unvorhergesehene Zwischenfälle sind nicht eingeplant. Ein Rohrbruch wie vor wenigen Wochen könne ihn schon ordentlich aus dem Konzept bringen. Purer Stress.

Angst hat er auch vor Prüfungen. Da gleicht er vielen anderen Studenten. In solchen Situationen rufe er gern bei seiner guten Freundin und Kommilitonin Thanh-Van an. Als sie Tom Zinram im Studium kennenlernte, wusste sie noch nichts von seinem Autismus. Sie erzählt: „Tom kam mir ganz normal vor. Nur manchmal ein bisschen hyperaktiv.“ Dabei sei seine Beeinträchtigung kein Geheimnis. „Mir wurde zwar in der Therapie erklärt, dass ich es nirgendwo angeben muss“, so Tom Zinram, doch wer seinen Namen im Internet googelt, stößt sofort auf diese Informationen. Tom Zinram geht offen mit seiner Diagnose um.

Die Therapie in seiner Jugend habe ihm auch geholfen, andere Menschen besser zu verstehen, ihre Mimik und Gestik zu deuten. Und so entwickelte er sich von einem Einzelgänger zu einem offenen und interessierten Abiturienten.

Dann ein glücklicher Zufall 2017. „Da lernte ich den Radio- und Fernsehmoderator André Holst kennen. Mittlerweile arbeiten wir zusammen“, erzählt Tom Zinram. Hin und wieder stehe er nun hinter und auch vor der Kamera, betreue Künstler, sei Teil von Projekten. Das helfe ihm sehr in seinem Alltag und im Studium. „Mein Ego geht dadurch nach oben. Ich werde immer offener.“ Sein Wunsch: künftig mehr vor der Kamera stehen. Auch deshalb habe er sich 2019 für die Journalismus-Ausbildung entschieden und unter anderem ein kurzes Praktikum bei der Volksstimme absolviert.

Jeden Tag wächst Tom Zinram ein Stück über sich hinaus. Immer wieder stellt er sich Herausforderungen, die für ihn unmöglich zu bewältigen scheinen. „Früher hatte ich Angst, allein mit der Bahn zu fahren. Doch 2018 bin ich sogar allein für Dreharbeiten mit Annette Frier an die Ostsee gereist.“ Die Schauspielerin mimt in der Serie „Ella Schön“ eine Asperger-Autistin. Die Serienfigur spiele Annette Frier ganz gut, wenngleich im Fernsehen auch einiges überzeichnet sei. Doch Tom Zinram macht auch klar: „Jeder Autist ist anders. Der eine ist introvertiert, der andere überdreht – oder normal.“

Er sieht sein Asperger Syndrom nicht nur als Beeinträchtigung, sondern will es auch als Stärke einbringen. So könne er sich vor allem Daten und Zahlen gut merken. Dagegen schaffe er es bei Fremdsprachen nur zu Grundkenntnissen. Und technisch sei er auch nicht so versiert, wie man glauben könnte. Homeschooling wurde pandemiebedingt zur nächsten Herausforderung in seinem Studentenleben.

Macht nichts. Tom Zinram ist sich sicher: Trotz oder gerade wegen seines Autismus wird er seinen Traum von einer Fernsehkarriere leben. Und wer weiß, vielleicht ist der junge Mann, der selbst vor Marathons nicht zurückschreckt, schon bald in einer TV-Show zu sehen.