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Flüchtlinge Wie Magdeburg zur neuen Heimat wurde

In Magdeburg baute sich eine syrische Familie eine Existenz auf. Ihr Beispiel widerspricht jeglichen Vorurteilen gegenüber Flüchtlingen.

Von Christina Bendigs 21.08.2018, 01:01

Magdeburg l „Guck mal, warum sind diese Hasen tot?“ Maha Aljuma kann sich noch gut an das erste Osterfest in Deutschland erinnern. Mit ihren beiden Kindern war sie im Allee-Center Magdeburg unterwegs, das für die Saison geschmückt war. Unter anderem waren dort auch Deko-Hasen im Gras liegend drapiert worden. „Nein, schau mal, da ist doch gar kein Blut. Der schläft bestimmt nur“, hätte ihr Sohn auf den Hinweis seiner kleinen Schwester erwidert.

Das Gespräch ihrer Kinder bewegt Maha Aljuma noch heute, zweieinhalb Jahre nachdem sie in Deutschland ankam. Es zeigt, wie das, was die Kinder erlebt haben, sie nach wie vor beeinflusst. Dass die Familie es geschafft hat, bis nach Magdeburg zu kommen, grenzt an ein Wunder. „Gott sei dank“, sagt die junge Mutter, die inzwischen in Magdeburg als Dolmetscherin arbeitet. In Syrien war sie Englischlehrerin.

Ihr Mann, Wasim Althalja, hat in Magdeburg einen Reparaturladen für Mobiltelefone eröffnet und ist damit zu dem Beruf zurückgekehrt, mit dem er sich in Syrien das Geld fürs Studium verdient hatte. Eigentlich sei er Jurist. Doch um in Deutschland in diesem Beruf arbeiten zu können, müsste er erneut ein komplettes Studium absolvieren. Das wollte er nicht. Schließlich habe er eine Familie zu ernähren.

In seiner Heimat sei er in einem Krankenhaus in Aleppo tätig und dort für die juristische Leitung und 1200 Angestellte verantwortlich gewesen. Als solcher habe er es nach Ausbruch des Krieges allerdings niemandem mehr recht machen können. Mit allen Gruppen habe er Probleme gehabt. Dabei sollte ein Krankenhaus doch ein neutraler Ort sein, auch in Kriegszeiten.

Zweimal sei er inhaftiert worden. Als Gefangener des Staates habe er sich mit viel Geld aus dem Gefängnis freikaufen können. Als Gefangener der Freien Armee hätten er und seine Familie um sein Leben bangen müssen. Es würden eigene Regeln und Gesetze gelten. „Als Richter arbeiten nicht nur ausgebildete Juristen“, erzählt Maha Aljuma.

Wasim Althalja sei bereits zum Tode verurteilt gewesen. Lediglich eine Unterschrift habe noch gefehlt. Doch dann sei der Richter gewechselt worden. Der zweite Richter sei ein ausgebildeter Jurist gewesen und habe das Verfahren neu aufgerollt. Nur dadurch sei der Syrer wieder freigekommen – gefoltert, mit ausgerissenen Fingernägeln. Andere Mitgefangene dagegen hätten sterben müssen.

Von der Entlassung aus dem Gefängnis floh Wasim Althalja direkt in die Türkei. Seine Frau blieb mit den beiden Kindern zunächst zurück. 20 Tage später versuchte auch sie, über die Grenze in die Türkei zu kommen – ein gefährliches Unterfangen. „Aber wenn ein Mann gesucht wird, ist dessen Familie auch nicht mehr sicher“, sagt seine Frau, „und was wäre dann aus unseren Kindern geworden?“

Das Wohlergehen der Kinder trieb die Mutter an. Zwei Versuche habe sie benötigt, um nachts mit den Kindern über die Grenze zu gelangen. Über das Internet habe sie mit ihrem Mann Kontakt gehalten und zwei Tage später hätten sie einander wiedergefunden. Der Weg über das Mittelmeer nach Griechenland und schließlich nach Deutschland sei schwierig gewesen. Und wäre es nicht ums Überleben gegangen, wäre die Familie in Syrien geblieben, sagt die Mutter. Schießereien und Bomben seien schlimm gewesen. „Aber das war nicht der Grund, warum wir gegangen sind. Es ging ums Leben“, sagt die Mutter.

Die Lebensumstände, in denen sie sich in Syrien eingerichtet hatten, seien ihr erst später bewusst geworden. In der Türkei hätten ihre Kinder zum ersten Mal Strom und Licht erlebt. „Mein Sohn hat mich gefragt, warum überall Kerzen brennen“, erzählt sie. Zuvor hätten sie gar keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Und erst in der Türkei hätten sie wieder gemerkt, was Frieden bedeutet – Märkte, normale Leute, „wir hatten das normale Leben vergessen“.

Oft hört sie in Deutschland, dass die Männer mutlos seien, dass sie ihre Frauen und Kinder zurückließen. „Niemand macht das gern“, betont sie. Es gehe dann einfach nicht anders. Für sie und ihren Mann hieß es, entweder wir leben zusammen oder wir sterben zusammen. „Gott hat uns gerettet“, ist sie überzeugt.

Über München, Halberstadt und Klietz kam die Familie schließlich nach Magdeburg. Maha Aljuma lernte innerhalb eines halben Jahres Deutsch. Auf einen Deutschkurs wollte die Mutter dabei nicht warten. Sie besorgte sich stattdessen Bücher. Sie ist ausgebildete Sprachlehrerin, hat Englisch studiert, sie wusste, wie man eine Sprache lernt.

Ihrem Mann fiel es dagegen schwerer. Sein Bruder und sein Vater hätten im Gefängnis ihr Leben lassen müssen. Ein weiterer Bruder sei bei der Armee gestorben. Die eigenen Erlebnisse im Gefängnis kamen noch hinzu.

„Er konnte sich nicht darauf konzentrieren, eine neue Sprache zu lernen. Dafür braucht man einen Kopf. Und den gab es anfangs nicht“, sagt Maha Aljuma. Inzwischen lenkt er sich mit der Arbeit von den düsteren Gedanken ab. „Dann denke ich nicht so viel daran“, erzählt Wasim Althalja. Eigentlich ist ihm die Arbeit aber zu klein: „Ich würde gern weitere Läden eröffnen“, sagt er.

Was immer wieder für Ärger sorge, seien die Steine, die der Familie in den Weg gelegt würden. Eine Wohnung und auch ein Ladengeschäft zu finden, sei nicht einfach gewesen. Wasim Althalja hatte sich ursprünglich ein Geschäft am Hasselbachplatz ausgesucht. Im Gespräch mit der Maklerin habe er jedoch erfahren, dass der Eigentümer nicht an Ausländer vermiete.

Verstehen kann er das nicht. Denn seine Geschäftsidee funktioniere. „Warum lässt man uns das nicht allein machen?“, fragt sich Maha Aljuma. Von der Wobau bekam die Familie nun das Geschäft am Alten Markt – problemlos. Eine Freundin begleitete die beiden jedoch zum Gespräch mit dem Vertreter des kommunalen Immobilienunternehmens.

Zu ihren Kunden gehören zu je 50 Prozent Migranten und Deutsche. „Einige gehen auch weg, wenn sie uns sehen. Aber die meisten nicht, und einige sind sehr nett und haben Interesse, andere sind komisch, als ob sie ein Monster gesehen haben“, erzählt die Mutter. Auch Ausländerfeindlichkeit bekomme sie immer wieder zu spüren – auf der Straße, beim Einkaufen. „Dabei gehen wir beide arbeiten, zahlen Steuern, haben schlaue Kinder“, erzählt die junge Frau und ergänzt: „Ich finde es unfair, dass wir so behandelt werden.“

Inzwischen hat die Familie sich gut eingelebt in Deutschland. Zum Freundeskreis der Eltern gehören hauptsächlich deutsche Familien. Zu Hause und mit ihren Kindern sprechen die beiden aber trotzdem Arabisch. „Wir wollen nicht, dass sie die Sprache vergessen“, sagt sie. Außerdem stünden ihnen damit einmal viele Türen offen. Die Kinder sollen zum Beispiel auch Chinesisch lernen. „Sprachen machen die Welt größer“, sagt sie.

Ob sie je nach Syrien zurückkehren werden, das wissen die Eheleute nicht – ihre kleine Tochter lebt inzwischen länger in Deutschland als in Syrien. „Wir trauen uns nicht mehr hin“, sagt die Mutter. Vorerst können sie in Deutschland bleiben, ein dreijähriger Aufenthaltstitel wurde ihnen bewilligt.

„Manchmal mache ich die Augen zu und frage mich: War es wirklich so?“, sagt Maha Aljuma. Und dann fragt sie sich, warum sie hier ist, wo sie oft das Gefühl hat, nicht dazuzugehören und ob das alles wahr ist. „Wir wollten die Welt sehen, aber nicht so, nicht als Flüchtlinge.“