Stadtgeschichte Freiwillig hinter Gittern wohnen
Die neue Folge der Serie „Was ist geworden aus?“ beschäftigt sich mit der ehemaligen JVA in Stendal. Ein Blick hinter die Mauern.
Stendal
Freiwillig hinter „schwedischen Gardinen“ wohnen? Genau dazu haben sich die Mieter der insgesamt 24 Wohnungen im ehemaligen Gefängnis in der Hallstraße 27 in Stendal entschieden. Seit 2012 gehört die Justizvollzugsanstalt Bianka Richter-Mendau. Die 50-Jährige und ihre Familie wollten auf keinen Fall, dass das historische Bauwerk neben dem Dom dem Erdboden gleichgemacht wird, blickt sie im Gespräch mit der Volksstimme zurück. Aus diesem Grund kaufte die Familie damals das Gefängnis, das 2010 stillgelegt wurde. Sie entschied sich dazu, Wohnungen aus den alten Zellen zu machen. Im Februar 2016 zogen die ersten Mieter ein.
Doch wie fühlt es sich an, im Knast zu leben, wenn vor einigen Fenstern noch die alten Gitterstäbe hängen und die kleine Arrest-Zelle im Keller noch zugänglich ist? „Ich habe ja noch einen Schlüssel und kann immer raus“, antwortet der Bewohner Roland Stoy mit einem Lächeln. Er und seine Frau Bärbel sind vor rund einem Jahr dort eingezogen. „Meine Frau wollte zurück in ihre Heimat“, begründet der Rentner den Umzug aus dem Thüringer Wald nach Stendal. Das Ehepaar kennt Familie Richter-Mendau schon lange, sodass es dadurch an die neue Behausung kam.
Ihre Wohnung hat rund 100 Quadratmeter und eine Terrasse. Wo heute ein kleiner Abstellraum mit Kleiderschrank zufinden ist, war früher eine sieben Quadratmeter große Zelle, in der zur DDR-Zeit sechs Häftlinge untergebracht waren, sagt Richter-Mendau bei der Besichtigung. Die übrigen Wohnungen sind zwischen 30 und 220 Quadratmeter groß. Nicht nur Rentner wohnen im Gebäude-Komplex, sondern auch Familien mit Kindern, beschreibt die Besitzerin das Klientel. „Individualisten bekommen bei uns auch einen Platz“, versichert sie. „Ein Großteil der Mieter ist zufrieden.“ Aus diesem Grund steht keine Wohnung zu diesem Zeitpunkt leer.
JVA Stendal: Zellentür vor Wohnungstür
Nicht nur der Abstellraum des Ehepaars Stoy erinnert daran, dass früher dort mal Männer und Frauen ihre Strafe abgesessen haben, sondern auch eine alte Zellentür. Diese befindet sich vor einer Wohnungstür und repräsentiert noch heute den ursprünglichen Zweck des Hauses. Ebenfalls orientierte sich Familie Richter-Mendau mithilfe des Stadtarchivs Stendal beim Umbau an die historischen Vorgaben des roten Backsteingebäudes. So ist der Wohnkomplex „modern und zeitgemäß mit Historie“, beschreibt Bianka Richter-Mendau.
Schließlich geht die Geschichte des Baus mehr als 200 Jahre zurück. Gebaut wurde das Gefängnis 1819. Nach einem Neubau, der 200.000 Mark kostete, wurde die Haftanstalt 1903 eröffnet. Rund 100 Gefangene hatten dort in mehr als 100 Jahren Platz. Sie kamen aus der gesamten Altmark und dem Jerichower Land.
Von 1992 bis 1994 wurde das Gebäude für rund 2,2 Millionen Mark saniert. Die Kosten trug das Staatshochbauamt. Zehn Zellen wurden auf den neusten Sicherheitsstand gebracht. Ein Stacheldrahtzaun wurde über die Mauer gezogen und der Küchentrakt wurde saniert.
JVA Stendal: 600 Menschen in U-Haft
In den 90er-Jahren beherbergte das Zuchthaus nicht nur Verurteilte, sondern auch Straffällige, die in Untersuchungshaft saßen. Im Jahr 2000 durchliefen insgesamt 600 Menschen die U-Haft in Stendal. Im gleichen Jahr wurde die frühere Staatsanwaltschaft gegenüber des Gefängnisses für den offenen Vollzug gebraucht. Bis 2004 war die JVA Stendal eigenständig. Dann wurde der Standort der Haftanstalt Magdeburg zugewiesen.
In der letzten vier Jahren des Bestehens des Gefängnisses von 2006 bis 2010 konnten die Untersuchungshäftlinge nicht mehr in Stendal untergebracht werden. Stattdessen verbüßten dort Verurteilte Haftstrafen von bis zu vier Jahren. 2010 wurde die Anstalt von heute auf morgen wegen Dachschäden geschlossen. Zuvor wurde ermittelt, dass das Gebäude einen Sanierungsbedarf in Höhe von 6,5 Millionen Euro hat.
Aber nicht nur die benötigte Sanierung spielte damals für die Schließung eine Rolle, sondern auch die Einweihung des „Super-Knasts“ in Burg. Diese JVA hat Platz für mehr als 600 männliche Häftlinge, weiß Michael Steenbuck, Pressesprecher des Landgerichts Stendal. Damit ist das Gefängnis das Größte in Sachsen-Anhalt. Somit werden die Häftlinge zentral untergebracht und nicht mehr nahe des Wohnorts, was die Resozialisierung nicht vereinfacht, erklärt Steenbuck.
JVA Stendal: Domcafé bald geöffnet
Ohne die JVA in Burg hätten im ehemaligen Gefängnis in der Hallstraße keine Wohnungen für Jung und Alt entstehen können. Aktuell laufen im Trakt mit Blick auf den Dom die Umbauarbeiten für ein Café mit Sommerterrasse. Ursprünglich sollte das Domcafé schon vor Weihnachten eröffnet werden, aber die Corona-Pandemie machte der Familie Richter-Mendau einen Strich durch die Rechnung. Die Besitzerin hofft, dass sie passend zur Jugendweihe im kommenden Mai ihre ersten Gäste begrüßen darf.
Neben einem gemütlichen Plätzchen zum Kuchenessen und Kaffeetrinken, sollen dort auch Künstler auf einer Bühne auftreten. Wenn weiterhin alles nach Plan läuft, dürfen Paare in einem separaten Raum auch standesamtlich heiraten. Dass man sich in einem ehemaligen Gefängnis das Ja-Wort gegeben hat, können nicht viele Verliebte von sich behaupten. Ebenso wenig wohnen die wenigsten Bürger freiwillig hinter „schwedischen Gardinen“.