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Graffiti Zwischen Kunst und Schande

Im Gespräch mit zwei Magdeburger Graffiti-Sprayer, die in ihrem Schaffen kaum unterschiedlicher sein könnten.

Von Nico Esche 16.10.2020, 23:01

Magdeburg | Für den einen sind es unangebrachte Schmierereien, für den anderen urbane Kunstwerke: Graffiti. Je nach Perspektive zeigen sich unterschiedliche Ansichten. Jährliche Reinigungskosten, um illegal gesprühte Graffiti zu entfernen, belasten die Magdeburger Haushaltskasse mit rund 100.000 Euro.

Vom Ärger der Vermieter, die die Hausfassaden ihrer Immobilien, von sogenannten “Tags” und “Pieces” (einfarbige und kleinere bzw. mehrfarbige und großflächige Graffiti) befreien müssen, ganz zu schweigen. Auf der anderen Seite die Sprüher, die “Tagger”, die Künstler, die Städte mit ihren Werken verschandeln, verschönern, beschmutzen oder bereichern - je nach Perspektive eben.

Ein Sprayer, der seit fast 20 Jahren seine Tags in Magdeburg hinterlässt, zeigt Einblicke in die Szene. Er möchte Torsten genannt werden, sein genaues Alter will er nicht verraten. Seine Profession ist das Sprühen. Sein Handwerk: illegal. Torsten ist im sogenannten “Underground” tätig, er verdient also kein Geld mit seinen Graffiti. Ende der 90er-Jahre fiel ihm ein Buch mit Graffiti-Art in die Hände. Sein Interesse an Kunst, Ästhetik und dem Reiz am Verbotenen mündete in seinen ersten gesprühten Graffiti in Magdeburg.

Schnell lernte er andere Tagger kennen. Gemeinsam streiften sie nach Einbruch der Dunkelheit und mit Sprühdosen im Rucksack durch die Gassen der Elbestadt. “Es stand und steht in erster Linie die Ästhetik im Vordergrund”, erklärt Torsten seine Leidenschaft, das Sprühen von Graffiti. “Wenn man jung ist, reizt es umso mehr, etwas Illegales zu machen. Wenn andere meinen Tag sehen, darüber sprechen, und nur ich der einzige bin der weiß, wer verantwortlich dafür ist, gibt das einen zusätzlichen Push.”

Torsten spricht von einem Kick beim Sprühen. Adrenalinschübe. Vor allem aber erzählt er vom “Fame”, den er mit seinen Tags erhält - also dem Ruhm, die Bekanntheit, die in der Szene durch illegales Sprühen erreicht werden kann. Die Graffiti-Szene ist kaum zu vergleichen mit anderen subkulturellen Milieus.

Entsprungen ist die Szene im New York der 70er-Jahre. Merkmale sind unter anderem spezielle Begriffe, eine teils hierarchisch aufgebaute Struktur innerhalb der “Crews” und die sehr enge Beziehung zum Hip-Hop. Viele Crews sprühen illegal, oft an besonders auffälligen und für den Sprayer gefährlichen innerstädtischen Orten - sie verbreiten ihren Namen. So weit, so oberflächlich; subkulturelle Szenen in der notwendigen Tiefe mit wenigen Worten zu behandeln, scheitert an der schieren Komplexität dieser.

Torsten bewegt sich seit vielen Jahren in dieser Szene. Er gründete eine Crew, stetig schlossen sich neue “Mitglieder” an. Zusammen besprühten sie unzählige Fassaden, Brückensockel und Zugwaggons in Magdeburg. Ob es eine Tabu-Grenze für ihn gebe? “Niemals würde ich ein Einfamilienhaus oder den Magdeburger Dom besprühen, geschweige denn mich auf einem Friedhof herumtreiben”, erklärt Torsten. Große Mietshäuser wiederum seien für ihn in Ordnung. “Jeder Sprayer hat einen eigenen moralischen Kompass, nach welchem er oder sie zu Werke geht. Graffiti ist eine Kunstform und nicht alle ‘Schmierereien’ sind illegal”, betont er.

Christoph Ackermann ist Diplom-Designer und Künstler. Er braucht keinen Fake-Namen, und das, obwohl er viel Zeit mit einer Spraydose in der Hand verbringt. Der 1979 in Magdeburg geborene Graffiti-Künstler sprüht seit fast 30 Jahren unter dem Pseudonym “Sonè”. Seit 2004 arbeitet er als freischaffender Künstler und Designer im Großraum Magdeburg und in Baden-Württemberg - und das vollkommen legal.

Viele von Ackermanns Werken kann man in seinem Buckauer Atelier auf dem Werk4-Gelände bestaunen. 2015 gründete er sein Label “In die Fluten”. Eines seiner Werke begrüßt am Gleis 5 des Magdeburger Hauptbahnhofs die Gäste der Stadt mit einem abstrakt geformten “Welcome”-Schriftzug. Zudem stellte er sein Handwerk bei der Magdeburger Kunstausstellung “Freiraumlabor” zur Schau.

“Ich wollte all meine Tätigkeitsfelder, die Malerei, Graffiti, Fotografie, Design und Workshops unter einem Namen verbinden”, erzählt er zur Gründung seines Labels. Auf seinem Instagram-Account (1000 Follower) entdeckt man eine Vielzahl künstlerischer Ergüsse des Magdeburgers.

Ackermann kann man ohne Zweifel als Urgestein der Magdeburger Sprayer-Szene bezeichnen. Eine Sprayer-Szene, die es nach ihm eigentlich gar nicht mehr gibt. Er macht klar: “Es gibt keine Stereotypen, wie sie noch in den 90ern zu erkennen waren. Es ist mittlerweile so breit gefächert und verbindet sich fließend mit anderen urbanen Kulturen.” Er begrüßt diese Entwicklung und Vernetzung unterschiedlicher Kulturen. “Jugendkulturen entstehen, tauschen sich aus, verbinden sich und profitieren voneinander”, so Ackermann.

Kondensiert man die Kunst aus dem Graffiti, bleiben am Ende schöpferische Zeitzeugen für die Ewigkeit - oder zumindest so lange, wie sie auf der Leinwand - in dem Fall Mauerwerke und Pfeiler - Bestand haben. So verschieden die Arten des Gesprühten, so unterschiedlich zeigen sie sich in der Qualität. Eine Spraydose in die Hand zu nehmen und ein paar krumme Buchstaben auf eine Wand kritzeln, hat entfernt etwas mit Kunst zu tun. Hochwertige Werke zu erzeugen, logischerweise auf legalem Weg, bedeutet ein enormes Maß an Handwerk und Talent (s. Bildergalerie).

Einen Ort, wo Sprayer legal ihrem Handwerk in vollsten Zügen nachkamen, war die Aerosol Arena in Magdeburg. Eine 30.000 Quadratmeter große Industriebrache, die Künstler aus aller Welt nach Magdeburg lockte. Sie hinterließen haushohe Wandgemälde, fein ausgearbeitete “Pieces” und Graffiti, die eine Geschichte erzählten oder erst gar keiner Erklärung benötigten. Und heute? Die Flächen wurden übermalt, der einstige bunte Glanz ist für immer verschwunden.

Über die Schließung der Freiluft-Arena zeigen sich ambivalente Meinungen unter den Sprayern. Torsten nutzte die Aerosol Arena zum Netzwerken, genoss die regelmäßig stattfindenden Veranstaltungen und hält das fehlende Interesse der Stadt an der Arena für fragwürdig.

Die Arena war laut Torsten ein Freiraum für Kinder, junge Erwachsene und jedem, der sich künstlerisch ausdrücken wollte. Christoph “Soné” Ackermann tangiert die Schließung jedoch wenig: “Ich kenne auch keine Graffiti-Künstler, die das groß bedauern”. In Magdeburg gebe es genug Wände, die ständig besprüht würden, der Austausch mit Künstler aus anderen Städten fände auch ohne Arena statt, so Ackermann.

Für viele Tagger und Sprüher halten nun vermehrt stattdessen die vielen leeren Fabrikhallen der Stadt, sogenannte “Abandoned Areas”, oder Hauswände her. Torsten kann trotz seiner Passion verstehen, warum sich viele über die Werke aufregen, warum das Besprühen von nicht hierfür freigegebenen Wänden illegal ist. Viele hätten seiner Meinung nach jedoch einen undifferenzierten Blick auf das Sprayen.

Wie die Magdeburger nach Meinung von Christoph Ackermann das Spraying in der Stadt sehen würden? “Wenn ich eine Schublade aufmachen müsste und das eher kritisch machen würde, dann käme da ein Mensch heraus, der gesprühte Landschaftsbilder willkommen heißt und für das eigentliche Graffiti kein Verständnis hat und dagegen wettert.”

Seiner Meinung nach stelle zudem die Magdeburger Presse Graffiti in einem falschen und nicht nachvollziehbaren Kontext ans Licht der Öffentlichkeit. Er ergänzt: “Freie künstlerische Arbeiten im öffentlichen Raum sind immer schwer zu realisieren, auch bei Auftragsarbeiten. Da lässt man lieber zum hundertsten Mal eine Magdeburger Skyline sprühen, als den Künstler wegen seiner Referenzen zu engagieren.”

Dies hätten seiner Meinung nach andere Städte Magdeburg um Jahre voraus. Seine Hoffnungen, dass sich an diesem Zustand etwas ändern könnte, liegen derweil in der Bewerbung der Kulturhauptstadt Europas.