Magdeburger 2016 Der Brückenbauer

Moawia Al-Hamid ist nominiert für den "Magdeburger des Jahres 2016". Der Imam ist Brückenbauer für die Integration.

Von Katja Tessnow 28.11.2016, 00:01

Magdeburg l Moawia Al-Hamid kommt vor 20 Jahren aus Syrien nach Deutschland, um zu promovieren. Anfangs vergießt er Tränen in der Fremde. Heute sagt er: „Ich bin Magdeburger.“ Seine Frau trägt Kopftuch. Sein Freund ist Atheist. 

„Neulich kam eine Frau mit ihrem Sohn, fünf oder sechs Jahre alt, in die Samstagsschule im Gemeindezentrum. Der Junge durfte Mädchen nicht die Hand geben. Ich habe der Mutter gesagt, wenn sie darauf besteht, kann er nicht mitmachen.“

Ein ähnliches Gespräch musste Moawia Al-Hamid vor 20 Jahren mit seiner Frau führen, als sie aus Syrien nach Deutschland nachzog. „Sie hat zu Hause den Niqab getragen, den Gesichtsschleier, der nur die Augen unbedeckt lässt. Sie wollte ihn auch in Deutschland tragen, aber ich habe gesagt, das geht nicht.“ Sie habe zuerst geweint, aber dann den Niqab gegen ein Kopftuch getauscht und sich inzwischen lange daran gewöhnt.

Moawia Al-Hamid wird 1969 in Deir ez-Zor in Ostsyrien geboren. Er erinnert sich an eine glückliche Kindheit und Jugend und an Toleranz. „Unsere Nachbarn waren Christen. Sie haben uns zu Ostern Eier geschenkt.“

Ab 1987 studiert Al-Hamid in Aleppo Elektrotechnik. „Mehr als die Hälfte meiner Kommilitonen waren Frauen, mit Niqab oder Kopftuch oder ohne. Es gab alles. Wir haben uns gut verstanden.“ 1992 schafft Al-Hamid einen der besten Bachelorabschlüsse des Jahrgangs, legt ein Jahr später das Diplom ab und wird wissenschaftlicher Mitarbeiter. 1996 wird er mit Stipendium nach Deutschland entsandt, um in Hannover zu promovieren. „Als ich ankam, habe ich geweint. Ich kannte niemanden.“ Dann lernte er Deutsch und die Sprache lieben. Al-Hamid überzeugt eine Reihe von Professoren von seinem Fachwissen, bekommt 1999 den Dipl.-Ing. und promoviert 2002 mit „sehr gut“.

Inzwischen ist er dreifacher Vater, eine Tochter, zwei Söhne. Die Kinder besuchen heute die IGS Willy Brandt und sind auf gutem Wege zum Abitur. „Sie haben zwei Jahre Zeit verloren, weil wir sie am Beginn der Schulzeit immer ein halbes Jahr nach Syrien zur Schule schickten.“ Sie sollen Heimat und Sprache kennenlernen für die Heimkehr. Zunächst will Al-Hamid noch Erfahrungen in Deutschland sammeln, „damit ich mich in Syrien besser verkaufen kann, dachte ich“. 2003 kommt er an die Universität nach Magdeburg und wird ein geschätzter Kollege. Al-Hamids Steckenpferd ist die Verträglichkeit elektromagnetischer Strahlung. In seinem Labor werden Geräte bis hin zum Elektroauto auf ihre Strahlung vermessen. Eben erst – im September 2016 – bekam die Magdeburger Uni für eine von Al-Hamids Erfindungen das Patent verliehen. Es geht um die Verbesserung von Kabelferriten, die – zum Beispiel an TV- oder Computerkabeln – die Störstrahlung drosseln.

Vor zehn Jahren plant die Familie zunächst die Rückkehr. Doch während Al-Hamid in der Heimat zunächst keine Anstellung findet, sagt sein Chef in Magdeburg: „Wenn die dich da nicht wollen, ich brauche dich hier.“ Al-Hamid bleibt.

„Dann kam die Revolution.“ Der Arabische Frühling kostet mehr als 100 000 Syrer das Leben, über eine Million fliehen. Auf den Frühling folgt eisiger Terror. Der IS wütet auch in Al-Hamids Geburtsort. Ein Neffe wird ermordet. Die ganze Familie flüchtet und ist heute über drei Länder verteilt: Türkei, Saudi-Arabien, Deutschland. Nur wenige leben noch in Syrien – geflohen in andere Landesteile. Moawia Al-Hamid ist in Magdeburg heimisch geworden – kein Weg zurück. Auch ein Angebot aus Stuttgart schlägt der Wissenschaftler unlängst aus, obwohl es einträglich gewesen wäre. „Aber die Kollegen hier, die Kinder in der Schule ...“ Nicht zuletzt – die Gemeinde.

Al-Hamid ist kein Islam-Gelehrter, aber ein ernst Gläubiger. Die hiesige Gemeinde sucht dringend Leute, schon als Al-Hamid in Magdeburg anlandet. Er steigt 2003 in die Arbeit ein, ist seit 2004 zunächst 2. Vorsitzender, heute Vorsitzender der Imam der Gemeinde, die keine homogene Gemeinschaft ist. „Zu uns kommen Menschen aus mehr als 20 Nationen.“

Al-Hamid vertritt einen aufgeklärten Islam. „Der Koran sagt, kein Zwang in der Religion!“ Zwangsheirat, Ehrenmord, Burka – „nichts davon steht im Koran und Mord ist Mord“, sagt Al-Hamid und sein Ton wird scharf: „Das alles ist völlig verrückt!“ Auch dass Frauen nicht Fahrrad oder Auto fahren dürften, wie in Saudi-Arabien. „Die müssen bekloppt sein, die sich so was ausgedacht haben.“

Der IS, das spricht aus allem was Al-Hamid sagt, ist ihm verhasst: „Die töten unsere Kinder.“ Al-Hamid bezieht regelmäßig – in der Moschee und in der Öffentlichkeit – Position gegen jede Art von Terror und Gewalt. „Ich würde sagen 99,9 Prozent der 1,6 Milliarden Muslime auf der Welt und unserer Besucher teilen das.“ Daneben könnten in jeder islamischen Gemeinde auch Fundamentalisten ausgemacht werden. „Wenn sie Einfluss gewinnen, kommen Hassprediger. Leute wie uns halten die für Ungläubige.“ Als er Ende 2015 nach den Anschlägen in Frankreich mit Menschen aller Glaubensrichtungen, von Gewerkschaften, Hochschulen, Verbänden gegen Terror auf die Straße geht, sieht Al-Hamid ein paar Leute nie wieder in der Moschee. Die Gemeinde ist auf der Hut. Sie bietet Polizei und Staatsschutz Zusammenarbeit an.

Die Gemeindearbeit beschränkt sich nicht aufs Gebet. Sonnabends sind Kinder eingeladen. Sie lernen den Koran kennen, auch Tänze, Theaterstücke, die hiesige Kultur – und sie geben sich die Hand, Jungen und Mädchen. Jeden Sonntag gibt Al-Hamid kostenlos Deutschkurse für Flüchtlinge und Studenten. Ebenfalls sonntags kommen bis zu einhundert Hilfesuchende, die meisten Flüchtlinge und nicht alles Muslime, um Behördenbriefe übersetzen zu lassen, Unterstützung beim Ausfüllen von Anträgen oder der Wohnungssuche zu bekommen. „Wir geben von 9 bis 11 Uhr Nummern aus, bis 14 Uhr wird abgearbeitet.“ Zu den Freitagsgebeten strömen bis zu 600 Menschen ins Gemeindezentrum. Al-Hamid predigt auf Arabisch und immer auch auf Deutsch. Er will verstanden werden, auch von Deutschen, die sich ein Bild von der Gemeinde machen wollen und jederzeit zum Besuch eingeladen sind. „Wir sind offen für die Stadt.“

Wochentags und nach der Arbeit an der Uni ist Al-Hamid regelmäßig unterwegs, um sich Fragen – auch harten und kritischen – zum Islam zu stellen: bei der Urania, vor Studenten, in Kirchengemeinden, vor Politikern, bei Unternehmen, Vereinen und Verbänden. Selbst der AfD hat Al-Hamid jüngst nach einer TV-Debatte ein Gespräch angeboten, „aber Herr Poggenburg hat sich nicht gemeldet“.

Dass jeder Muslim, der nach Deutschland kommt, sich nach hier geltenden Gesetzen zu richten hat, ist für Al-Hamid selbstverständlich und mehr noch – dass er sich im Alltag hiesigen Gepflogenheiten anpasst, Kontakt sucht, sich integriert. „Auch den Kindern zuliebe. Wenn sie in der Schule und zu Hause in zwei Welten leben, werden sie krank.“ Für die Gemeinde und deren Ankommen in Magdeburg arbeitet Al-Hamid ehrenamtlich und opfert dafür große Teile seiner Freizeit.

Dass die Muslime in Magdeburg seit Juni 2016 in einem immerhin geräumigen und einfach, aber annehmbar umgebauten Heizhaus mitten in der Innenstadt eine religiöse Heimstatt finden, daran haben Al-Hamid und seine vermittelnde Art großen Anteil. „Neulich guckte plötzlich ein älteres Magdeburger Paar in die Kanzel. Diese neugierigen Menschen liebe ich!“ Al-Hamid wünscht sich viel mehr davon und dass er dereinst seinem ehemaligen Kollegen und Freund Steffen Schulze im Paradies begegnet. „Steffen glaubt allerdings nicht daran. Er ist Atheist.“

Hier können Sie über den "Magdeburger des Jahres 2016" abstimmen.