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Schauspielhaus 34 Stunden ohne Kontakt zur Außenwelt

44 Magdeburger wagten am Wochenende ein Zeitexperiment. Das Bürgerensemble hatte zum Verzicht auf Handy und Uhr eingeladen.

Von Katja Tessnow 09.01.2017, 10:23

Magdeburg l Manuel Czerny, Leiter und Regisseur des Bürgerensembles am Schauspielhaus, ist der Einzige, der am Wochenende sein Handy samt Zeitanzeige mit in den abgeschotteten Bühnen- und Zuschauerraum nehmen darf. Entsprechend macht er einen anderen Eindruck als die 44 Teilnehmer des Theaterexperiments „Zeitgefühl“. Die Volksstimme-Redakteurin stattet der ansonsten streng von Besuchern, Tageslicht und jeglichen anderen äußeren Einflüssen abgeschirmten Gruppe durch eine Art Zeitschleuse von der Seitenbühne aus zweimal einen Besuch ab. Czerny selbst wirkt beide Male deutlich mehr unter Druck als die „zeitlose“ Gemeinde, was auch an der Verantwortung liegen mag, die der Mann zwei Tage lang für die Gruppe übernimmt.

Am Sonnabend um 10 Uhr geben 44 Frauen und Männer zwischen 20 und 75 Jahren – 18 sind Mitglieder des Bürgerensembles, 26 sind ganz „normale“ Magdeburger mit Lust auf die Theater- und Zeiterfahrung – ihre Uhren und Handys ab und quartieren sich mit Sack und Pack (Wäsche, Schlafsäcke, Matratzen) für 34 Stunden auf der Bühne im Schauspielhaus ein. Nach gut sieben Stunden wagen wir den ersten Einblick und landen in einem dezent beleuchteten Raum an, der in der Tat wie aus der Zeit gefallen wirkt. Eine Frau liest ein Buch, eine strickt, eine blättert in einem Fotoalbum. Andere Teilnehmer sitzen mit Taschenlampen über Blätter gebeugt und beantworten Fragen, die sie zum Nachdenken über sich selbst anregen. Wieder andere haben sich in Gruppen zu Gesprächen zurückgezogen. Alle wirken entspannt. In regelmäßigen Abständen sind die Teilnehmer zu Lesungen („Die geschlossene Gesellschaft“, Sartre), Bewegung (Qigong) oder Theater (Schattenspiele) eingeladen. Es folgen Verständigungsrunden. Dabei schätzen alle, wie spät es etwa sei. Am Sonnabend gegen 18.50 Uhr reichen die Annahmen von 17 bis nach 21 Uhr.

Bettina (67, Rentnerin), Domenique (29, Rechtsanwältin), Steffi (49, Fotografin), Roswitha (75, Rentnerin) und Rasmus (20, Student) eint bei einer ersten Umfrage das Gefühl einer großen Harmonie in der Gruppe. Alle haben sich freiwillig auf das Experiment eingelassen. Alle wollen sich einbringen und suchen den Austausch untereinander. Und alle beschreiben ein ähnliches Gefühl – ein ansteigendes Maß innerer Ruhe.

Am Sonntag um 11 Uhr – das Experiment dauert inzwischen 25 Stunden an – trifft der Zaungast im „zeitlosen“ Raum auf noch deutlich stärker entschleunigt wirkende Menschen. Just leitet ein junger Mann im Bühnenlicht eine Art Frühsport an, von dem keiner genau weiß, ob es eigentlich Frühsport oder späterer ist. Die Gemeinschaft hat Spaß und fast jeder ein Lächeln im Gesicht. Simone (53, Verwaltungsangestellte) ist begeistert: „Ich bin sonst viel in Bewegung und habe mich gefragt, ob ich das hier aushalten kann. Es geht wunderbar.“ Selbst Teilnehmer vorgerückten Alters haben die Nacht auf Matratzen klaglos überstanden. Das innige und besondere Gemeinschaftserlebnis macht wenigstens für den Moment die gewohnte Bequemlichkeit überflüssig.

Einzig Uhrinhaber Czerny hat gerade keine Zeit zum Gespräch. Er hetzt durch Vorbereitungen für die nächsten Aktionen. Noch sind neun Stunden zu überstehen ...