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Sprechproblem Magdeburger Stotterer sagt, was er will

Stottern? Für viele gilt das immer noch als Stigma. Einer, der damit lebt, ist der Magdeburger Tobias Haase.

Von Christina Bendigs 02.05.2019, 01:01

Magdeburg l Dass Tobias Haase einer Zeitung einmal ein Interview über das Thema Stottern geben würde, wäre vor zehn Jahren undenkbar gewesen. Der zweifache Familienvater aus Magdeburg stottert seit seinem dritten Lebensjahr.

Zunächst besuchte er eine Sprachheilschule in Potsdam, ab der dritten Klasse ging er in eine reguläre Schule. Stets hielt er sich zurück, entwickelte Strategien, das Sprechen zu vermeiden, lebte teils sehr isoliert. „Man hat nur noch so viel Kontakt wie nötig, aber nicht so viel, wie man möchte“, sagt er. Doch das ist vorbei.

Heute geht er offen mit dem Stottern um – und das hat sein Leben maßgeblich verändert. Der studierte Biochemiker arbeitet in einer Beratungsstelle – hilft Menschen mit Sprechproblemen, engagiert sich im Verein, war im Vorstand aktiv. „Ich bin nicht mehr ständig auf der Hut. Früher habe ich zum Beispiel wichtige Telefonate stunden- oder tagelang aufgeschoben“, erinnert er sich.

Eine Menge Gehirnkapazität sei jetzt frei, die er vorher brauchte, um das Stottern zu verbergen. „Das ist wirklich anstrengend. Denn man versucht, bestimmte Wörter auszutauschen, schlägt dadurch in einer Unterhaltung manchmal große Bögen“, erzählt er. Und all das führt dazu, dass sich das Stottern noch verstärkt. Ein Teufelskreis. Tobias Haase hat ihn durchbrochen.

Sein erster Kontakt zur Selbsthilfe war 2010 in Berlin bei einem Kongress stotternder Menschen. „200 Leute waren da – es war für mich eine Offenbarung, Leute zu treffen, die anders mit dem Stottern umgehen, die trotzdem ihren Berufsweg einschlagen, auch Freizeitaktivitäten nachgehen, an denen sie Spaß haben“, sagt er.

2011 gründete Tobias Haase eine Selbsthilfegruppe in Magdeburg, die bis heute existiert und stotternden Menschen regelmäßig einen Raum bietet, in dem sie verstanden werden.

„Das Schlimmste für einen Betroffenen ist, nicht ausreden zu können“, sagt Tobias Haase. Ratschläge wie „Bleib ruhig“ oder „Atme erst mal tief durch“ helfen nicht. Er betont: „Wer stottert, weiß, was er sagen will, es ist nur der Redefluss, der teils unterbrochen ist“, so Haase. Und gerade das sei das Frustrierende.

Aber er versteht auch, dass sein Gegenüber teils hilflos reagiert, wenn er es nicht richtig zuordnen kann. Deshalb ist Tobias Haases Strategie inzwischen, offen zu sagen, dass er stottert und um die Zeit zum Ausreden bittet. Das entspannt die Situation für beide Seiten – und das Gespräch kann einen besseren Verlauf nehmen.

Seine Frau Ulrike Haase sagt, für sie sei es überraschend gewesen, dass jeder auf eine andere Weise stottert. Als sie ihren Mann kennenlernte, seien die Stotterblockaden viel größer gewesen, habe es viel länger gedauert, ehe er etwas aussprechen konnte. „Es war teils schwierig, den Gesprächen zu folgen“, sagt sie. Mit der Therapie vor sechs Jahren und dem Schritt in die Selbsthilfe habe sich vieles verändert. Ihrer Ansicht nach müsste aber noch mehr aufgeklärt und das Bewusstsein für das Stottern geweckt werden.

„Kellner haben sich teils verkohlt gefühlt, weil sie überhaupt nicht daran gedacht haben, dass mein Mann stottern könnte“, erzählt sie. Der beste Rat sei Geduld, die Leute ausreden zu lassen, nicht ständig das letzte Wort eines Satzes vorwegzunehmen.

Als Tobias Haases Tochter anfing zu stottern, war die Sorge zunächst groß: „Das ist schon noch mal anders. Aber wir wussten ja, wie wir damit umgehen müssen.“ Die fünfjährige Josefine habe schon immer gern erzählt. Am Anfang habe sie selbst gar nicht gemerkt, dass sie stottert. Doch dann gab es einen Moment, in dem es ihr selbst auffiel. Die Anstrengung fiel zunehmend schwerer.

In Zusammenarbeit mit einer Logopädin hat sich das Stottern seiner Tochter aber wieder gelegt. Das Mädchen gehe damit sehr offen um, erzähle auch Nachbarn, dass sie stottere. Anders sein interessiert sie besonders, auch bei anderen Menschen, und sie fragt oft, was andere Menschen, zum Beispiel mit einer Behinderung, haben, erzählt die Mutter, die selbst Kindergärtnerin ist.

Für Kinder, die stottern, sei es wichtig, ihnen das Gefühl zu geben, dass sie okay sind – und zwar genauso, wie sie sind. Die Augen zu rollen, wenn ein Kind nicht schnell genug einen Satz zu Ende bringt, könne die Probleme noch verstärken. Damit sei niemandem geholfen.

Ob er selbst Hänseleien in der Schule erlebt hat? „Nein, eigentlich nicht“, sagt Tobias Haase. Heute gibt es in Schulen einen Nachteilsausgleich – also schriftliche Prüfungen anstelle von mündlichen oder mit Kamera zu Hause gefilmte Referate, wenn mündliche Leistungen abgefragt werden. Tobias Haase hatte damals Absprachen mit den Lehrern getroffen, dass er beispielsweise nur aufgerufen wird, wenn er sich meldet. Dann würde die Antwort auch flüssig kommen.

Schwierig geworden sei es immer dann, wenn Vertretungslehrer in die Klasse kamen. „Aber spätestens nach der ersten schriftlichen Leistungskontrolle wussten sie, ich habe was drauf.“ Er habe das Gefühl gehabt, in schriftlichen Arbeiten besonders gut sein zu müssen, um die mündliche Schwäche auszugleichen, erzählt er.

Sein Ziel in der Beratungsstelle „Sprechraum“ ist, aufzuklären, über Hilfen zu informieren, die stotternde Menschen in Anspruch nehmen können, aber auch über seriöse Therapieformen, bei denen es Chancen auf Erfolg gibt. Drei Tage pro Woche ist er in Berlin in der Beratungsstelle vor Ort, die sich aufs Stottern spezialisiert hat. Da Tobias Haase aus Magdeburg kommt, wäre jedoch auch eine aufsuchende Beratung kein Problem. Und natürlich können sich Ratsuchende auch telefonisch oder schriftlich an die Einrichtung wenden.

Auf einer Internetseite gibt es weitere Informationen zum Thema. An der Beratung wirkt Tobias Haase mit.