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Kunst- und Kulturfestival Zur neuen Sinnlichkeit wollen alle in den Knast

Vor zwei Jahren wollten aus der Justizvollzugsanstalt Magdeburg noch alle raus - Sonnabend wollten alle rein. 3000 Besucher sind am Sonnabend zur Eröffnung des Kunst- und Kulturfestivals "Sinnlichkeit" gekommen.

08.06.2015, 03:44

Magdeburg l Früher wäre es ein Alarmsignal gewesen, wenn im Haupt-Gefängnistrakt die Türen offen gestanden hätten. Rot blinkende Lämpchen signalisieren das. Aber heute ist alles anders. 250 Künstler haben aus einem Bau mit trauriger Geschichte eine blühende Kulturinsel geschaffen.

Einer von ihnen ist Gunnar Kretschmer vom Atelier Zinnober. Er steht in einer der vielen Zellen. Der 32-Jährige mit Down-Syndrom winkt den Besuchern zu und ruft: "Immer rein hier. Nicht so schüchtern. Wollen Sie einen Sekt?" Kretzschmer steht vor seinen Bildern, erklärt jedem seine Leidenschaft. Seine Vorliebe sind bekannte Gesichter aus Funk und Fernsehen. "Ich male das, was mir in den Kopf kommt" sagt er und winkt so viele Besucher in seine kleine Kunst-Zelle, bis es auf den wenigen Quadratmetern sehr eng wird - und man eine Ahnung davon bekommt, wie sich die Insassen früher gefühlt haben könnten.

Die Entscheidung, das Kunst- und Kulturfestival in einem alten Knast zu veranstalten, ist ein absoluter Glücksfall. Die Kunst taucht die JVA in ein geradezu surreales Licht. All die Mauern, Tore, Gitter, der Stacheldraht und die Videokameras zeigen sehr deutlich, wo man sich hier befindet. Die Geschichte der Gebäude ist noch zu jung, um sie als etwas Entferntes wahrzunehmen. Davon deuten auch die Kritzeleien ehemaliger Insassen an den Gefängniswänden. Dieser Ort war kein Ort, an dem gelacht und getanzt wurde.

Unter den Künstlern sind auch ehemalige Häftlinge. Besonders geheimnisvoll sind etwa die großflächigen Bilder an den Wänden in den Fluren. Allesamt zeigen Freiheitsmotive: ein Segelschiff, ein Motorrad, ein Haus mit Vorgarten. Diese Bilder sind mit D.Z. signiert. Der ehemalige Häftling hat sie über Monate hinweg angefertigt. Ein anderer Künstler hat sich in seiner "Kunst-Zelle" mit der Inhaftierung des eigenen Vaters auseinandergesetzt.

Der Hamburger Dieter Geschler wählte wiederum einen anderen Ansatz. Er hatte in der Volksstimme nach Magdeburger Kleingärtnerinnen gesucht, die ihm beim Pflanzen eines großen Weiblichkeitssymbols auf dem Gefängnishof helfen. Acht Frauen meldeten sich. "In dem Gefängnis saßen nur Männer. Oft waren Frauen Opfer von Gewalttaten. Aber auch die Mütter der Inhaftierten haben gelitten", erklärt Geschler seine Kunst. Er schaffe mit seinem Werk eine Dialogsituation. Und genau das sei es, was Kunst im besten Fall erreichen kann: Dialoge schaffen. "Sinnlichkeit" ist das in herausragender Weise gelungen.

Von 15 bis 3 Uhr: Die Volksstimme hat die ersten 12 Stunden "Sinnlichkeit" am Stück miterlebt. Hier geht es zu den Bildern: www.volksstimme.de/kunstknast