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Grenzöffnung Neun Tage voller Willen, Wut und Plackerei

Mit ihrer Ansprache berührte Oebisfeldes Ortsbürgermeisterin Bogumila Jacksch die Menschen, die zum Baumerleuchten gekommen waren.

Von Harald Schulz 03.12.2019, 05:00

Oebisfelde/Büstedt l Dass heute jede Straße zwischen Oebisfelde und der westlichen Allerseite, in welche Richtung auch immer, genutzt werden kann, war auch nach dem Mauerfall vor 30 Jahren für die Menschen in der Stadt und der Region Oebisfelde keine Selbstverständlichkeit. Oebisfeldes Ortsbürgermeisterin Bogumila Jacksch erinnerte Zeitzeugen und informierte junge Familien, die zum Baumerleuchten an die Büstedter Brücke gekommen waren, an jene bewegende Zeit der friedlichen Revolution direkt vor der Haustür.

„Niemand wusste, wie sich die Situation nach dem 9. November 1989 entwickeln würde. Der Unmut der Oebisfelder war deshalb nur allzu verständlich, als in Berlin entschieden wurde, in nächster Nähe von Oebisfelde wird es Grenzübergänge für Autofahrer und Fußgänger nur in Böckwitz/Zicherie und Marienborn/Helmstedt geben“, erinnerte Jacksch. Wo einstmals aufgrund einer Bundesstraße der kürzeste Weg zwischen den Städten Hannover, Braunschweig und Berlin verlief, sollten die Oebisfelder, die ihre Verwandten in den nahen Dörfern in Niedersachsen besuchen wollten, weiterhin Dutzende Kilometer Umwege fahren, um ans Ziel zu gelangen. „Also gingen unsere Bürger auf die Straße, fertigten spontan Transparente aus Bettlaken und Tischtüchern und machten das, was sie seit Jahrzehnten nicht durften. Sie brachten ihren Willen zum Ausdruck, sie demonstrierten und es gelang ihnen, was vorher unmöglich schien“, berichtete die Ortsbürgermeisterin.

Ausgehend von der evangelischen Katharinenkirche, wurde nach dem 9. November mehrfach zur Grenze marschiert, an der noch vorhandenen Mauer demonstriert und lautstark gefordert, diese Grenze einzureißen, um auch hier freien Durchgang und Reisefreiheit für die Oebisfelder zu erreichen, schilderte Jacksch.

Unterstützung kam aus Velp­ke. So rief die Bürgermeisterin Edith Schünemann mittels Megafon über die noch bestehenden Grenzsperranlagen, dass sie von ihrer Seite aus alles unternehmen wolle, um den Willen der Oebisfelder zu unterstützen. Durch den zusätzlichen Druck der Bürger wurde die Grenzöffnung „vor Ort“ wahrscheinlicher, spann Jacksch den roten Geschichtsfaden weiter.

Nach vielen Telefonaten mit dem Innenministerium in Berlin, dem Rat des Bezirkes in Magdeburg und auch mit dem Grenzregiment in Kalbe und den Kommandanten der verschiedenen Dienststellen der sogenannten bewaffneten Organe vor Ort, so Jacksch, fiel die Entscheidung, auch an der Grenze Oebisfelde eine Grenzübergangsstelle zu genehmigen. Am 18. November wurde dann im Oebisfelder Rathaus, im Beisein von Vertretern des damaligen Rates des Kreises, der Grenztruppen, der Bürgermeister und von Vertretern des Oebisfelder Brückenbaubetriebes der 26. November als Eröffnungstermin festgelegt.

Alle notwendigen Absprachen mit dem Bundesgrenzschutz, den Grenztruppen der DDR, der Straßenmeisterei Vorsfelde, unter Leitung von Rudi Hnyk und Eberhard Kuhnert, wurden dann bei einer Baubesprechung auf der Mitte der Allerbrücke getroffen.

Am Montag des 20. Novembers begannen dann die Bauarbeiten, verlas Jacksch aus historischen Aufzeichnungen. Zuvor hatten die Grenztruppen im Bereich der Brücke Bau-freiheit geschaffen, indem sie den Grenzzaun und die Mauer geöffnet hatten.

Aber alle Grenzanlagen waren noch wirksam, so dass jeden Morgen ein Vertreter des Baubetriebes nach Klötze fahren, dort vorweisen musste, welche Personen und Baufahrzeuge im Bereich der Grenze arbeiten sollten. Erst nach Genehmigung durch die Kreisleitung durfte die Arbeit beginnen.

Jacksch erinnerte: „Bauleiter Ernst Breiteneder sorgte dafür, dass seine Mitarbeiter arbeiten konnten. Die Kolonnen von Ulli Lutter, Rolf Bicknäse und Peter Kulessa gaben in Schichten bei Regen, Schnee und Frost ihr Bestes. Gleich drei marode große Durchlässe vor der Büstedter Brücke aus Naturstein mussten abgebrochen werden, die Aller­umflut war aufzufüllen und zu verdichten. Die Straße war nicht mehr vorhanden und musste neu gebaut werden. Am Abend des 25. November um 22 Uhr war es geschafft.

Doch dann traf die Hiobsbotschaft ein: Die Grenze darf nicht geöffnet werden. Diese Information löste blanke Wut bei den Bürgern aus. Der Oebisfelder Gerhard Wartenberg gehörte zu den ersten, die sofort eine Demonstration organisierten, der mehr als 500 Menschen folgten. Um doch noch den Termin zu halten, fuhren der Oebisfelder Eberhard Kuhnert und Bürgermeister Steffen Wetterling ins Rathaus Velpke, um die Situation zu klären.

Es folgten Gespräche auf höchster Länder- und Bundesebene. Als die beiden Oebisfelder zurückkehrten, stand schon der Vorsitzende des Rates des Kreises Klötze, Ulrich Koppe, an der Grenze und erklärte den aufgebrachten Bürgern, dass die Eröffnung am kommenden Tag, dem 26. November, erfolgen kann. Diese Grenzöffnung erfolgte dann frühmorgens im Schneegestöber durch den Oebisfelder Bernd Vaupel, der an diesem Tag 48 Jahre alt geworden war.

Eigentlich sollten erst um 8 Uhr die Grenze geöffnet werden, doch bereits um 6 Uhr gab es kein Halten mehr. „Wohl über 48.000 Bürger strömten an diesem Tag, fast je zur Hälfte aus Ost und West, durch Oebisfelde. Auch zirka 5000 Autos passierten die provisorische Straße. Die Stadt platzte aus allen Nähten. Die Freude war unbeschreiblich, und beiderseits der Grenze waren die Bürger gastfreundlich und lagen sich in den Armen“, schloss Jacksch ihre Ansprache.