Schuldnerberatung Der Trend zum Mehrfach-Problem
Nach 29 Jahren ist die Leiterin der AWO-Schuldnerberatung in Oschersleben (Landkreis Börde) in den Ruhestand gegangen.
Oschersleben l Die meisten DDR-Bürger hatten nach der Wende zunächst keine Erfahrung im Umgang mit Schulden. Auf der anderen Seite konnten sie sich plötzlich viel mehr Konsumwünsche erfüllen als vorher. „Nach der Umgestaltung der DDR haben die Menschen bemerkt, dass sie mehr Bedürfnisse haben, und sie wollten sie auch befriedigen“, fasste Gisela Wolf zusammen. Doch mit dem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit habe niemand gerechnet. Das brachte viele Menschen in Schwierigkeiten. Der Beratungsbedarf stieg.
29 Jahre lang hat Gisela Wolf die Schuldnerberatung in Oschersleben geleitet. Anfangs war der Landkreis der Träger. Heute befindet sich die Einrichtung unter dem Dach der Arbeiterwohlfahrt. In ihrem Berufsleben hat Gisela Wolf viel erlebt. Viele Tausend Beratungsgespräche kamen zusammen. Wie die 63-Jährige erklärte, war die Arbeit sehr vielschichtig. Eine Ausbildung zur Schuldnerberaterin gebe es jedoch nicht. Alle Kolleginnen seien Quereinsteiger. Gisela Wolf selbst ist zum Beispiel Diplom-Ökonomin. Dafür seien jedes Jahr mehrere Fortbildungen zu absolvieren, um die entsprechende Qualifikation vorzuweisen.
Um erfolgreich beraten zu können, brauche es Fingerspitzengefühl und manchmal auch ein detektivisches Gespür. Viele Klienten würden ein Gespräch mit Sätzen eröffnen wie: „Ich habe Post von einem Inkasso-Büro.“ Tatsächlich sei die Situation der Menschen oft sehr komplex. Das sei etwas, was sich im Laufe der Zeit geändert habe. „Wir haben heute viele Multiproblemfälle“, berichtete Gisela Wolf. Das bedeutet: Viele Klienten haben nicht nur Schulden, sondern auch andere Schwierigkeiten. Dazu könnten beispielsweise Suchtpro-bleme gehören oder psychische Belastungen. Laut Gisela Wolf hat das häufig mit gesellschaftlichen Rahmenumständen zu tun. Die Erwartungshaltung, immer neue Erfolge vorweisen zu müssen, sei gestiegen. Die vielen täglichen Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten seien für manche auch eine Herausforderung. Die Lebenshaltungskosten seien gestiegen. Hinzu komme, dass es Anwälte gebe, die sich darauf spezialisiert hätten, Schuldner unter Druck zu setzen. Einige Klienten würden sich kaum noch trauen, Briefe zu öffnen.
Gisela Wolf betonte, dass grundsätzlich ganz unterschiedliche Personengruppen die Angebote der Schuldnerberatung nutzen. Dazu gehörten beispielsweise auch ehemals Selbstständige, die mit ihrer Geschäftsidee gescheitert sind. In jedem Fall sei es wichtig, die jeweilige Situation mit ihrem Hintergrund genau zu analysieren. „Nur über diesen Weg, können Sie es schaffen, dass sich der Klient entschulden kann - entweder durch eine Rückzahlung der Schulden oder durch ein Insolvenzverfahren“, betonte Gisela Wolf. Trotzdem habe ihr ihre Tätigkeit Freude gemacht. „Die Arbeit mit Menschen gibt auch etwas zurück“, bekräftigte sie. „Ich schaue auf eine schöne Zeit zurück.“ Die bisherige Leiterin der Beratungsstelle hob darüber hinaus die Rolle von Marlies Gahl hervor. Sie leitete nach der Wende das Sozialamt des Landkreises Oschersleben. In dieser Funktion habe sie sich dafür stark gemacht, dass in der Stadt eine Schuldnerberatung gegründet werde, so Gisela Wolf. Zum 1. Februar 1992 sei ihre Stelle von der AWO übernommen worden.
Die Anfangstage seien nicht immer leicht gewesen, erklärte Gisela Wolf. Das habe schon beim Arbeitsmaterial angefangen und sei bei der technischen Ausstattung weitergegangen. Nicht zuletzt sei die Beratungsstelle mehrfach umgezogen. Heute befindet sie sich in der Wilhelm-Heine-Straße 11. „Wir haben uns durch nichts entmutigen lassen. Und wir fühlen uns hier sehr wohl“, betonte Gisela Wolf.
Zu den Gästen der Verabschiedung gehörte auch Andreas Schmidtgen. Er ist der Vorstandsvorsitzende des AWO-Kreisverbandes Börde und lobte: „Was wir hier jetzt haben an Qualität, an Kompetenz und an Möglichkeiten, das haben wir Frau Wolf zu verdanken.“ Weiter sagte Andreas Schmidtgen: „Sie können nach diesen vielen Jahren stolz und zufrieden sein mit dem, was Sie erreicht haben. Auch das Sozialamt des Landkreises schätzte Ihre Arbeit.“ Marlies Gahl war verhindert, hatte jedoch ein Grußwort geschickt. Darin hieß es mit Blick auf Gisela Wolf: „Niemand kann ermessen, welche neuen Wege und Möglichkeiten sie für die beratenen Familien eröffnet hat.“
Gisela Wolfs Nachfolge als Leiterin der Schuldnerberatung übernimmt ab sofort Anja Walter. Unterstützt wird sie von Christin Schwarz. An die beiden gerichtet, sagte Gisela Wolf: „Ich wünsche euch ein ebenso gutes Gelingen, Freude an der Arbeit mit den Klienten und dass ihr nicht den Mut verliert, wenn es Hürden zu überwinden gibt.“