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Seelsorge Oschersleber Ansprechpartner in der Not

Seit Jahren unterstützt die Stadt Oschersleben die Telefonseelsorge Dessau. Warum Dessau? Was wird mit dem Geld gemacht?

Von André Ziegenmeyer 25.03.2020, 01:00

Oschersleben l „Aus Worten können Wege werden“: So lautet Andreas Krov-Raak zufolge ein alter Slogan der Telefonseelsorge. „Das bringt ziemlich gut zum Ausdruck, was Telefonseelsorge ist“, erklärte der Leiter des Standortes in Dessau.

In den alten Bundesländern entstand die Telefonseelsorge laut Andreas Krov-Raak bereits 1956. In der ehemaligen DDR seien Angebote dieser Art in den 80er Jahren aufgekommen. Nach der Wende hätten sie eine rasante Verbreitung erfahren. Heute geben es in Deutschland insgesamt 105 Telefonseelsorge-Stellen. Es gehe darum, an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr einen Ansprechpartner zu bieten, falls Menschen Nöte oder Probleme haben. Dabei gebe es verschiedene, charakteristische Eigenschaften.

Zunächst einmal ist die Telefonseelsorge anonym - und zwar sowohl für den Anrufer als auch für den jeweiligen Mitarbeiter. Sie ist „prinzipiell für alle und für alles da“, fasste Andreas Krov-Raak zusammen. Sie ist kostenfrei und sie ist verschwiegen. Hinzu komme, dass die Mitarbeiter intensiv geschult würden, bevor sie ihrer Aufgabe nachkommen. Viele Telefonseelsorge-Stellen befänden sich in der Trägerschaft der evangelischen oder der katholischen Kirche. Im Fall Dessau sei es die evangelische Kirche, wie Andreas Krov-Raak berichtete. Das Angebot sei aber weltanschaulich offen.

Wie Krov-Raak weiterhin erklärte, gibt es die Stelle in Dessau seit 1995. Neben ihm als hauptamtlichem Leiter gehören 75 Ehrenamtliche und eine Bürohilfe mit einer Viertelstelle dazu. Sie sind für ein Gebiet zuständig, das von Wernigerode bis hinter Wittenberg reicht. Auch Oschersleben gehöre dazu. Je nach Auslastung könne es aber vorkommen, dass Anrufer aus einem Gebiet an die Nachbarstelle weitergeleitet werden. So könnten Oschersleber in einigen Fällen auch in Magdeburg landen.

Denn: „Der Bedarf ist nach wie vor höher, als es das Angebot befriedigen kann“, so Andreas Krov-Raak. „Im Grunde telefonieren wir rund um die Uhr.“ In den letzten Jahren habe es große Anstrengungen gegeben, das Angebot weiter zu verbessern. Dennoch sei man noch nicht zufrieden. Wem es wirklich schlecht gehe, dem fehle vermutlich die Kraft, immer wieder anzurufen, weil er keinen Mitarbeiter erreichen kann, so Andreas Krov-Raak. Auf der anderen Seite möchte er den Betreffenden ermutigen, es trotzdem zu versuchen. „Wir sind da, auch wenn wir eben manchmal schon telefonieren.“

Allgemein gelte: „Das Gesprächsbedürfnis der Menschen steigt.“ Das lasse sich auch an der Dauer der Telefonate ablesen. Diese könne im Einzelfall zwischen einigen Minuten und eineinhalb Stunden liegen. Tendenziell nehme sie jedoch zu. Viele Menschen würden nicht nur einmal, sondern wiederholt Kontakt aufnehmen.

Zu den Aufgaben der Telefonseelsorge gehöre es unter anderem, Krisen vorzubeugen beziehungsweise in Krisen für Menschen da zu sein. Auch das „Ermutigen und Mittragen“ sei Teil davon. In diesem Zusammenhang erklärte Andreas Krov-Raak: „Eine schwere Erkrankung oder der Tod eines Angehörigen sind keine Probleme, die gelöst werden können. Aber es kann helfen, mit jemandem darüber zu reden.“

Auch das Hinführen zu einer eigenen Entscheidung könne zu den Aufgaben der Telefonseelsorge zählen - ebenso wie Hinweise auf geeignete Fachleute und Hilfseinrichtungen.

Neben kirchlichen Mitteln wird die Stelle in Dessau vom Land mitfinanziert. Hinzu kommt die Unterstützung durch verschiedene Landkreise und Städte. Im vergangenen Jahr haben die ehrenamtlichen Mitarbeiter laut Andreas Krov-Raak 11 081 Anrufe gehabt. Darunter seien aber auch Telefonate gewesen, bei denen der Anrufer nichts gesagt oder wieder aufgelegt habe. Bei den tatsächlich geführten Gesprächen lasse sich feststellen, dass Frauen die Telefonseelsorge etwas häufiger nutzen als Männer.

„Wir haben es vor allem mit Themen zu tun, die Menschen im familiären Umfeld oder im Freundeskreis nicht ansprechen möchten“, erklärte Andreas Krov-Raak. In solchen Fällen könne es einfacher sein, mit einem Fremden zu reden. Oft gehe es um Einsamkeit und Isolation sowie um familiäre Beziehungen und depressive Störungen. „31 Prozent der Anrufer haben eine diagnostizierte psychische Störung“, erklärte Andreas Krov-Raak. Dieser Wert steige seit Jahren. Vor diesem Hintergrund sei es bedauerlich, dass die Telefonseelsorge nicht von den Krankenkassen unterstützt werde. Aktuell gehe es allerdings bei rund 40 Prozent der Gespräche um das Thema Corona.

Wie der Leiter der Stelle Dessau erklärte, seien die meisten Anrufer zwischen 40 und 60 Jahre alt. Das sei „eine Bevölkerungsgruppe, die mit vielen potenziellen Problemen konfrontiert ist“, so Krov-Raak. Oft gebe es berufliche Veränderungen, Eltern, die gepflegt werden müssten oder Sorgen mit den Kindern. Allerdings sei die Telefonseelsorge auch per Mail oder Chat erreichbar. Dort sei der Altersdurchschnitt geringer.

Tatsächlich sei auch das Thema Selbstmord für die Telefonseelsorge von Bedeutung. „In sechs Prozent der Gespräche werden Suizidgedanken geäußert. Zwei Prozent der Anrufer äußern konkrete Suizidabsichten“, informierte Andreas Krov-Raak. Das bedeute für die ehrenamtlichen Mitarbeiter eine große Verantwortung. Auf der anderen Seite: „Wenn man darüber sprechen kann, sinkt der Druck, es wirklich in die Tat umzusetzen“, betonte Krov-Raak. Abschließend erklärte er: „Die Stadt Oschersleben unterstützt uns seit vielen Jahren, und das ist keine Selbstverständlichkeit.“

Wer selbst Kontakt zur Telefonseelsorge aufnehmen möchte, erreicht sie unter der Nummer 0800/111 01 11. Weitere Infos, auch zum Kontaktangebot via Mail und Chat, gibt es im Internet unter www.telefonseelsorge.de