30 Jahre Mauerfall Wie wohnt es sich in Salzwedels Platte?
Einst begehrt, heute belächelt: Die Plattenbauten aus DDR-Zeiten. Doch wie lebt es sich in Salzwedel heute in den Ost-Geschossern?
Salzwedel l Es duftet nach frischem Kaffee, als Viola Adel im 4. Stock ihre Wohnungstür öffnet. „Herein spaziert“, sagt sie. Über einen Fußabtreter mit Katzenmotiv geht es in ihre Zwei-Raumwohnung mit Weitblick. Bad geradeaus, Schlafzimmer rechts, Wohnstube links, Küche daneben. Fertig. Ex-Sozialismus auf 55 Quadratmetern.
Viola Adel wohnt im sogenannten WBS-70 – die Wohnungsbauserie des am weitesten verbreiteten Plattenbausystems der ehemaligen DDR. Dieser Bautyp mit einem einheitlich basierten Plattenraster, 1,20 Meter mal 1,20 Meter, basierte auf einen Einheitsbau für die komplette DDR. In den Jahren 1972 bis 1990 wurden 644 900 dieser Wohneinheiten fertiggestellt. So auch im sogenannten „Neubaugebiet“ von Salzwedel. Einer Stadt, die eigentlich mit historischen Fachwerkhäusern von sich Reden macht.
„Ich wohne gerne hier“, sagt Viola Adel und schenkt Kaffee ein, „man hat doch alles.“ Apotheke, Restaurants, Einkaufsmöglichkeiten, Banken, Ärzte, Tankstelle und Kino seien fußläufig zu erreichen. Eine andere Bleibe käme nicht infrage.
Die 56-Jährige schwelgt in Erinnerungen. „Ich bin ja eigentlich Dorfkind.“ Doch für die Arbeit zog es sie in die Kreisstadt. Während ihrer Lehre als Reinigungskraft war sie anfangs noch im Schwesternwohnheim in Salzwedels Brunnenstraße am Krankenhaus untergebracht, bis es schließlich in den Plattenbau ging. „Die Zentralheizung war eine tolle Sache“, schwärmt sie noch heute, „auch das Bad“. Denn auf dem Dorf musste sie sich noch im Kuhstall waschen und in einer Zinkwanne baden. Mit dem Plattenbau zog ein gewisser Luxus in ihr damaliges Leben ein. Kein Holz hacken, keine Kohle schleppen, kein Wasser erhitzen. Seit 1984 wohnt sie mittlerweile im Neubaugebiet. Erst in einer Ein-Zimmerwohnung in der Hansestraße, seit 2011 mit einem Raum mehr in der Hopfenstraße.
Gerade das nachbarschaftliche Verhältnis aus DDR-Zeiten lässt sie nicht mehr los. „Wir haben uns alle aus dem Eingang und auch den Nebeneingängen regelmäßig getroffen.“ Es wurde geklönt, geholfen und gefeiert. „Die Erdgas-Kumpel waren nebenan und auch oft dabei.“ Beinah jeden zweiten Tag wurde sich getroffen. „Da hat jeder was mitgebracht.“ Es wurden Salate gemacht, mal gab es Nudeln mit Tomatensoße oder Eierback. „Wichtig war immer der Zusammenhalt.“ Wohnungen verschließen und zum Schutz verrammeln, das habe es nicht gegeben. Jeder habe auf den anderen geachtet. „Das vermisse ich sehr.“
Auch ihre alte Arbeit als Reinigungskraft im Krankenhaus hat einen Platz in ihrem Herzen. Denn mit dem Mauerfall zog auch gesellschaftliche Kälte in ihr Leben. Damals sei die ganze Station ein Team gewesen. Man habe immer zusammen gegessen, sich ausgetauscht und sich zusammen umgezogen. Mit der Wende sollte es nicht mehr so sein. „Wir durften plötzlich nicht mehr zum medizinischen Personal, sollten uns im Keller umziehen und allein essen.“ Wut und Trauer schwingen in ihren Sätzen mit. „Ich muss erstmal eine rauchen“, sagt sie und geht auf ihren Balkon. „Hier habe ich meine Ruhe.“ Sie zieht an ihrem Glimmstängel. Ein Tisch, zwei Stühle, ein Wäscheständer. Außerdem ein Netz vor dem Balkon. „Na, sonst klettert sie zum Nachbarn.“ Sie, das ist ihre Katze Lucy. Eisblaue Augen und stets in ihrer Nähe.
Von ihrem Balkon guckt Viola Adel auf weitere Blöcke, auch auf ihren ehemaligen in der Hansestraße. „Da wollte ich weg.“ Laut sei es dort nach der Wende gewesen und ungepflegt dazu. „Hauswoche wollte da keiner machen.“ Wohl auch deshalb wird das Wohngebiet von vorwiegend jungen Leuten „Ghetto“ genannt. Aber das stimme nicht, sagt Adel. Ihr Aufgang sei der Beweis. Auch wenn es nicht mehr dieses Verhältnis wie zu DDR-Zeiten gebe, man grüße sich und mache die Hauswoche.
Drei Etagen unter Viola Adel sitzt Gundel Bechtel auf ihrem Sofa. Ebenfalls mit einer Katzenmotiv-Fußmatte vor der Haustür und weiteren Samtpfötchen auf Kissen. Die beiden Frauen sind befreundet und kennen sich viele Jahre, haben zusammen im Krankenhaus sauber gemacht. Auch die 72-Jährige wohnt seit 1984 im Plattenbau. Ihre übersichtliche Zwei-Raumwohnung misst 38 Quadratmeter. Zwei kleine Räume, eine noch kleinere Küche und das winzige Standard-Badezimmer. Auch die Rentnerin kann sich eine andere Wohnung nicht mehr vorstellen. „Hier wohne ich, hier bleibe ich“, sagt sie.
Um ihre Sozialkontakte zu pflegen, gehen die beiden Salzwedelerinnen mehrmals in der Woche in das Mehrgenerationenhaus (MGH), etwa 50 Meter von ihrem Wohnblock entfernt. Zu DDR-Zeiten Kinderkrippe und Kindergarten, wurde das Objekt später Jugendclub und MGH. Die 72-Jährige hat dort mehrere Jahre ehrenamtlich mitgeholfen. Mal die Kleiderkammer betreut, mal die hauseigene Bibliothek gepflegt. Wenn sie nicht im MGH ist oder mit Adel zum wöchentlichen Bauernmarkt fährt, guckt die Rentnerin TV. „Was soll ich denn sonst machen?“
Gundel Bechtel blickt aus dem Fenster und überlegt. „Zum Glück habe ich Flöckchen.“ Flöckchen ist ihre Hauskatze, liegt neben der Seniorin auf dem Sofa. „Sie ist schon elf Jahre – nicht wahr Flöckchen?“, sagt sie und streichelt den Stubentiger.
Gundel Bechtel hat ein schweres Leben gehabt. Sie hat ihre Großmutter und Mutter gepflegt, sich um weitere Menschen gekümmert statt um sich selbst. Nebenbei mehrere Jobs gehabt, um sich über Wasser zu halten. Heute bleiben ihr Viola Adel, ihre Katze, das MGH und ihre Plattenbauwohnung.
„Ich drehe auch jeden Cent zweimal um“, sagt Viola Adel. Sie arbeitet im niedersächsichen Uelzen in der Produktion. Doch nicht mehr lange. „Bald bin ich arbeitslos.“ Ihre Produktionslinie, an der sie arbeitet, wird geschlossen. Was dann wird, weiß sie nicht. Nur eines steht fest: „Von der Abfindung werde ich eine neue Küche kaufen“, erzählt Adel.
Den Rest der Wohnung hat sie seit Ende 2018 renoviert. Neue Tapete, Schränke, TV und Sofa. DDR-Charme sucht man beim Mobiliar vergebens. Nur einige Lichtschalter sind noch den Volkseigenen Betrieben zuzuordnen. Die Wohnungsbaugesellschaft der Stadt Salzwedel (Wobau) hat Wohnblöcke – wie auch den von Adel und Bechtel – saniert. Die oberen Etagen wurden abgetragen, um dem Leerstand entgegenzuwirken. Außerdem wurden Leitungen erneuert und frische Farbe aufgebracht. Aus den Betonriesen des Sozialismus sind ansehnliche Wohnblöcke der Neuzeit geworden.
Derzeit unterhält die Wobau in Salzwedel 836 Wohnungen in der Platte. 230 im Friedensring und 606 an der Arendseer Straße. 715 davon sind vermietet. Davon wiederum sind 512 modernisiert worden, wie in der Hopfenstraße. 180 Wohnungen hingegen wurden abgerissen. Wie auch anderenorts verschwindet das Erbe der DDR zusehends.
Viola Adel steckt sich noch eine Zigarette an und blickt über die anderen Plattenbauten hinweg. Die Spitze des Wasserturms am Eingang zum Stadtzentrum ist zu erkennen. Doch im Zentrum gebe es keine Parkplätze, keinen bezahlbaren Wohnraum und kein MGH, sagt die 56-Jährige. Der Plattenbau, das sei und bleibe ihre Heimat.
Und die DDR? Die vermisse sie irgendwie. Dass alles so günstig war, jeder Arbeit gehabt hätte und die Menschen besser zueinander waren. Heute denke sie fast nur an die Kosten von Benzin, Miete und Strom. Und Gundel Bechtel? Sie fühlt sich wohl, auch wenn das Geld knapp ist. „Wo soll ich sonst auch hin?“