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DDR Die Wende in Barnebeck erlebt

Die letzten Tage der DDR erlebte Kerstin Senkbeil in Barnebeck. Sie wurde die erste Bürgermeisterin nach der Wende.

Von Cornelius Bischoff 16.08.2020, 13:00

Barnebeck l „Das Leben hier war vor allen Dingen beschaulich“, sagt Kerstin Senkbeil. Versonnen schaut die studier­te Agrar-Ingenieurin über den Rand ihres Wasserglases. Auch am frühen Abend zeigt das Thermometer noch 23 Grad. Der leichte Wind, der um die Ecken des Innenhofes im Haus Barnebeck 20 streicht, ist angenehm. Nur einen guten Steinwurf vom Haus verlief noch vor 30 Jahren die innerdeutsche Grenze, verhinderte den heute selbstverständlichen Kontakt zu den Menschen im benachbarten Ort Thune.

„Ich habe das damals gar nicht vermisst“, sagt Kerstin Senkbeil. Der Blick auf Osterfeuer und Mähdrescher, die jenseits der Grenze auf niedersächsischer Seite ihre Bahnen über die Felder zogen, habe irgendwie zum Alltag gehört. „Natürlich ist es schön, dass wir heute alle wieder zusammen sein können“, sagt sie. Und die Freude der Menschen an der neu gewonnenen Freiheit, sei – im Sinne des Wortes – grenzenlos gewesen: „Aber vorher hat die Grenze einfach zu unserem Leben gehört.“

Seit 1984 lebt Kerstin Senkbeil in Barnebeck. „Der Liebe wegen“, gibt sie zu Protokoll. „Ich hatte einfach keine Lust mehr, mir jedes Mal einen neuen Passierschein zu holen, wenn ich meinen Mann besuchen wollte.“ Die ersten Anlagen zur Grenzsicherung hätten in jenen Tagen gleich hinter Henningen begonnen. „Hinter dem letzten Haus links, da war die Grenze“, sagt Senkbeil. Eine zweite Sicherheitszone, der sogenannte Hundert-Meter-Streifen, habe sich entlang der Dumme über die Felder gezogen.

Kerstin Senkbeil hat ihre Kindheit und Jugend in Langenapel erlebt: „Meine Mutti war bei der Post“, sagt sie, der Vater habe in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) gearbeitet. Nach dem Abschluss der Schule folgte eine zweijährige Ausbildung in Beetzendorf zur Facharbeiterin in der Rinderproduktion. Dann kam das Studium in Wernigerode. Das weitere Leben, in der Post oder bei der LPG, schien vorgezeichnet – und dann kam die Wende. „Über Nacht waren alle meine Grundlagen weg“, erinnert sich Senkbeil.

Buchstäblich, denn auch die Gemeinschaft zwischen Barnebeck und Kortenbeck, die zu Zeiten der DDR eine Gemeinde gebildet hatten, war über Nacht zerbrochen. Kortenbeck habe sich historisch an Lagendorf orientiert. Übrig geblieben war Barnebeck und gesucht wurde ein neuer Bürgermeister.

Eines Abends habe der Gemeinderat vor der Tür des jungen Ehepaares gestanden: „Mensch Kerstin“, hätten die Herren, damals schon in gesetzterem Alter, die 28-jährige, junge Frau umworben: „Wir suchen einen Bürgermeister und eine Angestellte in einer Person.“

„Das Angebot war unschlagbar“, erinnert sich Kerstin Senkbeil; denn die Halbtagsstelle als Angestellte der Gemeinde habe ihr den nötigen Freiraum geboten, um ihre Familie und die Verpflichtungen, die sich aus dem Ehrenamt als Bürgermeisterin ergaben, unter den sprichwörtlichen Hut zu bekommen. „Und dann begann“, strahlt Kerstin Senkbeil, „eine großartige gemeinsame Zeit.“ Im Rat der selbstständigen Gemeinde Barnebeck saßen im Jahr 1991 Otto Heidemann, Peter Winterhoff, Horst Fölsch und Dieter Hamer. „Ich war als einzige Frau, die nicht einmal aus Barnebeck stammt, unter all diesen gestandenen Männern. Und ganz ehrlich“, fügt sie hinzu, „ich hatte keine Ahnung, auf was ich mich da eigentlich eingelassen habe.“

Erst nach und nach hatte die junge Bürgermeisterin gelernt, ihre Position im Rat zu behaupten, und so waren zahlreiche Projekte entstanden, die noch heute Bestand haben: Die Öffnung der Thuner Brücke oder das Dorfgemeinschaftshaus sind zwei der Gedanken, von denen sich die Menschen in den ersten Jahren nach der Wende nur schwer vorstellen konnten, dass sie eines Tages in die Tat umgesetzt würden. „Es brauchte nur jemand, der einen Idee anstößt,“ sagt Kerstin Senkbeil: „Wir haben im Rat viel organisiert und es war immer das ganze Dorf, das für ein gemeinsames Ziel gemeinsam angefasst hat.“ Als Beispiel nennt Senkbeil die Thuner Brücke.

Ratsherr Otto Heidemann habe damals in der Bauabteilung des Landratsamtes in Salzwedel gearbeitet. So war es gelungen, Landrat Egon Sommerfeld für den Gedanken zu begeistern, das historische Brücklein an der ehemaligen Mühle wieder für den Verkehr – und die Verbindung zwischen den Menschen nutzbar zu machen. Da es auch den Partnern auf der niedersächsischen Seite ein Anliegen gewesen sei, ein Zeichen für die neu gewonnene Nachbarschaft zu setzten, war der Gedanke schnell gefasst, die alte Brücke für den Verkehr neu zu erschließen. Die Menschen auf beiden Seiten der Grenze zu verbinden sei, sagt Kerstin Senkbeil, das Herzensanliegen ihrer Amtszeit, von 1991 bis 1992, gewesen.

In der Nacht der Grenzöffnung hatten viele Altmärker zum Teil lange Wege auf sich genommen, um mit eigenen Augen zu sehen, dass die Schlagbäume geöffnet und die Einreise nach Westdeutschland möglich war. „Ich konnte das zuerst auch nicht glauben“, gibt Kerstin Senkbeil zu Protokoll. Die Begeisterung der Menschen könne man sich kaum vorstellen, wenn man es nicht selber erlebt hat, erinnert sie sich.

Weil es in der näheren Umgebung von Barnebeck zunächst keine direkte Verbindung von Ost und West gegeben habe, hatten die Männer der Feuerwehren aus dem niedersächsischen Nienbergen und die Kameraden aus Barnebeck eine provisorische Holzbrücke über die Dumme geschlagen. „Ich weiß nicht mehr, wann das war“, sagt die heute 56-Jährige, aber im Saal des Dorfes habe es ein denkwürdiges Fest gegeben, als die Nienbergener über die gemeinsame Brücke ihren Einzug im Dorf gehalten haben.

Als ein „Zeichen für die Aufbruchstimmung“, die in den ersten Jahren nach der Wende die Menschen erfasst hatte, nennt Kerstin Senkbeil auch die bürokratischen Hürden und Genehmigungen. „Das war viel einfacher als heute“, sagt sie und weiß selber nicht recht, wie sie all die völlig neuen Anträge auf Fördergelder habe bewältigen können. „Das ging nur, weil alle zusammengehalten haben und es immer jemanden gab, der helfen konnte“, sagt sie. Zudem habe in dieser Zeit schon die Unterstützung des Landrats gereicht, um auch große Projekte in die Tat umzusetzen.

Erste Änderungen waren mit der Gemeindereform im Mai 1992 sichtbar geworden. Die selbstständige Gemeinde Barnebeck wurde zu einem Ortsteil von Henningen erklärt. Kerstin Senkbeil wurde als neues Mitglied in den Gemeinderat gewählt, behielt ihre Anstellung in der Verwaltung und unterstützte die neue Administration als stellvertretende Bürgermeisterin hinter Christel Schneppel. Um das Jahr 1994 habe eine weitere Verordnung dafür gesorgt, dass sie ihre Mandate habe niederlegen müssen. Bei der Gemeinde war Kerstin Senkbeil bis 2010 angestellt. Die Thuner Brücke leistet seit 1994 wieder ihren Beitrag, um Menschen in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt miteinander zu verbinden.