Streiflichter aus dem Leben des Dorfschullehrers Erich Finke, Dülseberg Ein deutsches Schicksal - kein Einzelschicksal
Geboren zu Kaisers Zeiten - Jugend- und Soldatenzeit im Ersten Weltkrieg - prägende Jahre während der Weimarer Republik - entscheidende Berufsperiode im "Großdeutschen Reich" - Dienst an der Front - nach 1945 neue Ideologie im alten Stil.
Erich Finke wurde am 17. Januar 1899 als jüngstes von fünf Geschwistern in Althaldensleben geboren. Seinen Vater verlor er schon als kleines Kind. In Neuhaldensleben gab es eine berühmte Lehrerbildungsstätte, das Lehrerseminar, mit angegliederter Präparandenanstalt. Dort erhielten in den Jahren 1907 bis 1925 fast 600 junge Männer eine allumfassende fachliche sowie pädagogische Ausbildung für den Lehrerberuf. Eintrittsberechtigt waren Vierzehn- bis Siebzehnjährige mit abgeschlossener achtjähriger Schulzeit. Man besuchte drei Jahre lang die vorbereitende Präparande und machte nach weiteren drei Jahren, nun auf dem Seminar, die Abschlussprüfung. Diese legte Erich Finke im August 1920 ab. Als Lehrer erwartete die jungen Männer nicht gerade Reichtum, aber eine angesehene, sichere Stellung.
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Musikunterricht war im Rahmen der Ausbildung ein besonderes Charakteristikum, dem man sich mindestens fünf bis sechs Stunden pro Woche widmete, in anspruchsvoller Vielseitigkeit. Es gab unter anderem Gesangs-, Violin- und Klavierunterricht, man unterhielt einen Chor und ein Seminarorchester. Es gab jährliche, öffentliche Seminarkonzerte und andere instrumentale Darbietungen. Erich Finke spielte laut eigenem Zeugnis im Streichorchester als erster Geiger mit. Hier wurde deutlich der Grundstein für seine spätere umfassende, variierende musikalische Tätigkeit gelegt. Oft hat er auch über das gemeinsame Wandern, begleitet von Mandolinenklängen und Gesang, berichtet.
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Zu dieser Zeit - 1870/71 und besonders der Erste Weltkrieg mit Deutschland als gedemütigtem Verlierer waren noch in aller Gedächtnis - war Französischunterricht absolut keine Selbstverständlichkeit; so jedoch auf dem Lehrerseminar Neuhaldensleben. Wer hätte damals ahnen können, dass Erich Finkes Französischkenntnisse ihm während seiner Stationierung in Frankreich im Zweiten Weltkrieg und später als sprachliches Bindeglied zwischen einem ehemaligen belgischen Kriegsgefangenen und einer des Französischen nicht mächtigen Dülsebergerin in ihrem Briefwechsel von Nutzen sein würden?
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Junglehrer Erich Finke trat seine erste Stelle nach vier Jahren Arbeitslosigkeit am 1.Juni 1924 in Calbe/Saale an, gefolgt von kürzerer oder längerer Tätigkeit in Hillersleben, Eimersleben, Sommerschenburg und Behnsdorf, sämtlich in der Umgebung von Haldensleben gelegen. Nach insgesamt sechs Jahren und acht Monaten wurde er Ostern 1931, exakt am 16. April, als Nachfolger von Lehrer Schulz als Schulleiter nach Dülseberg berufen, einem Dorf, das 1928 219 Einwohner zählte (lt. "Hei- matkunde der Altmark", Salzwedel 1928). Eickhorst (108 Einwohner) und Rustenbeck (103 Einwohner) waren der Schule Dülseberg zugeordnet.
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Während der letzten Dienstjahre von Lehrer Schulz wurde das Schulgebäude umgebaut, das heißt, das Klassenzimmer wurde erweitert und erhielt einen separaten Eingang mit Flur. Davon weiß Martin Mahlke, heute mit seinen fast 92 Jahren Dülsebergs ältester Einwohner, zu berichten. Er erinnert sich auch, dass er zusammen mit einem weiteren Schüler sowie Lehrer Finke die Klasse beim Singen auf der Geige begleitete. Musik, besonders Volkslieder, wurde zu einem wichtigen, hochgeschätzten Bestandteil des Unterrichts für Generationen von Schülern und hat sie nachhaltig geprägt.
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Die Jahre zogen ins Land. Hitler ergriff die Macht. Dem Ehepaar Erich und Hanna Finke wurde durch "Kraft durch Freude" (KDF) im Juli 1937 eine Kreuzfahrt nach Norwegen ermöglicht, was für beide ein bleibendes Erlebnis wurde. Jedoch: Keine Freude währet ewig. Gleich zum Kriegsbeginn am 1. September 1939 - seine Tochter Hannelore war gerade dreieinhalb Monate alt - wurde Lehrer Finke eingezogen. Lazarettaufenthalt, Fronturlaub, Einsatz an verschiedenen Frontabschnitten. Am 16. Dezember 1944, Heiligabend stand vor der Tür, schrieb Uffz. (Unteroffizier) Erich Finke aus seiner damaligen holländischen Unterkunft nach Hause an Erich Bannier unter anderem: "...wir wollen aber die Hoffnung nicht aufgeben. Einmal wird auch uns die Sonne wieder scheinen! ... Gestern hat der Spieß einige musikalische Leute ausgesucht, und so werden wir etwas musizieren. Mir ist das sehr lieb; denn dadurch vergißt man wenigstens für ein paar Stunden alles, was einen bedrückt."
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Am 8. Mai 1945 ist offiziell der Zweite Weltkrieg zu Ende, Deutschland besiegt und der Spuk vorbei. Erich Finke begibt sich mit seinen Entlassungspapieren, am 5. November 1945 von den Russen ausgestellt, zu Fuß zurück in die Heimat: Höfts nehmen ihn auf; denn Frau und Tochter, nichtsahnend, befinden sich in Behnsdorf. Die ersten Monate, in anfänglich kritischem Zustand, gehören der langsamen Genesung. Am 1. Januar 1946 Wiedereintritt in den Dienst, nun mit einer zunehmenden Zahl von Flüchtlings- und Vertriebenenkindern. Neulehrer Reinhard Janiszewski übernimmt die erste und zweite Klasse im Nachmittagsunterricht und entlastet so Herrn Finke. Ganz, ganz langsam kehrt wieder so etwas wie der normale Alltag ein.
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Dennoch: Der Schulalltag hatte gewisse praktische Tücken, wie sich noch heute so mancher erinnert. In den ersten Nachkriegsjahren waren Engpässe in der Kohleversorgung nichts Ungewöhnliches. Zu dieser Zeit wurde der Begriff "Kohleferien" geprägt, was unfreiwilligen Unterrichtsausfall bedeutete.
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Während der Adventszeit übten die Schüler fleißig für ihre kleinen Auftritte bei der Weihnachtsfeier im Saal bei Banniers: Gedichte, Geschichten, Lieder, kurze Stücke; schließlich galt es ja, sich vor dem Dorf nicht zu blamieren!
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Der Saal bei Banniers war auch in anderem Zusammenhang der zentrale Punkt, wo sich das ganze Dorf versammelte, zum Beispiel bei Tanzvergnügen, oft mit der Kapelle Holtorff aus Diesdorf. Im Laufe des Abends konnte man Lehrer Finke mehrmals auf der Bühne wiederfinden, wo er den Kapellmeister auf seiner Geige ebenbürtig vertrat.
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Der eine oder andere Dorfbewohner wurde zu runden Geburtstagen mit einem Ständchen frühmorgens aus dem Schlaf geweckt (was beim Dorfschmied Herrn Kranemann laut Akkordeonbegleiter Joachim Gäde trotz intensivster Versuche nicht von Erfolg gekrönt war). Als Lehrer Finke einen runden Geburtstag zu begehen hatte, wartete ihm sein Chor ohne Vorankündigung mit einem Ständchen auf und wurde reichlich bewirtet mit dem, was der Keller zu bieten hatte - Apfelwein; das Gerücht sagt, 117 Flaschen, drei pro Person! Die Nacht wurde lang, der Keller nicht leer, der Heimweg für manche abenteuerlich. Helmut Grothe erreichte gerade noch den Güterzug so gegen vier Uhr morgens, der ihn sicher vom Bahnhof Dülseberg zum Bahnhof Höddelsen - Reddigau brachte.
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Zu den besonderen Ereignissen zählen auch die Dorfhochzeiten, die seit eh und je in der Altmark mit riesigem Aufwand und vielen, vielen Gästen traditionsgemäß gefeiert werden. Finkes waren immer "mit an", denn Herrn Finke fiel die Aufgabe zu, die Hochzeitszeitung mitzugestalten und vorzu- tragen und die Festrede zu halten.
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Sommerzeit - Kirschenzeit. Auf dem Schulhof ("Großer Hof") an der Giebelseite des Hauses, auf dem sogenannten Kleinen Hof und hinter der Waschküche gab es insgesamt vier riesige Süßkirschbäume, deren Früchte in rascher Folge reiften. Die Bauern im Dorf und in den Nachbardörfern waren interessierte Abnehmer, und Finkes kamen im Tausch zu in der Nachkriegszeit raren Dingen wie Eiern, einem Stück Speck, Leberwurst...
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Im Zuge der Zentralisierung verlor die Schule in Dülseberg 1951 die beiden oberen Klassen an Höddelsen beziehungsweise Diesdorf. Das hinderte jedoch die Dülseberger nicht daran, im Frühjahr 1961 Erich Finkes 30-jähriges Dienstjubiläum feierlich zu begehen. Zum Herbst kam dann die Strafversetzung, über die später noch zu berichten sein wird. Nach kurzer Zeit wurde er als Schulleiter an die Polytechnische Oberschule in Langenapel berufen. Auf Grund seines hohen Alters - er stand im 71. Lebensjahr - und auf eigenen Wunsch fand sein lebenslanges Wirken im Dienste der Erziehung und Bildung am 4. Juli 1969 mit einer Abschlusszeremonie unter anderem mit Gedichtvorträgen seine Erfüllung. Zitat aus einem dieser Gedichte: "Nimmer soll vergessen sein, was in uns Du pflanztest ein." Man erinnere sich: Seminarium bedeutet auf Deutsch - Pflanzschule.
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Im Nachlass von Erich Finke befanden sich nicht nur sieben Geigen und natürlich das Klavier, sondern auch eine Pestalozzi-Medaille, die Lehrer zu DDR-Zeiten für pädagogische Verdienste verliehen bekamen. Unumstritten ist, dass Lehrer Finke den klassenübergreifenden Unterricht methodisch perfekt beherrschte. Der eine oder andere damalige Schüler möge ihm nachsehen, dass es ihm mitunter schwer fiel, eine einmal gefasste nicht so positive Meinung zu revidieren.
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Als Rentner hatte er das Recht, die BRD und das "kapitalistische Ausland" besuchen zu dürfen, was er fleißig nutzte. Zusammen mit seiner Frau Hanna reiste er sowohl zu seiner Tochter nach Schweden als auch zu seinem Neffen Heinz, dem Fotografen, nach Konstanz. Heinz hatte die beiden bei einem seiner Besuche in der gemeinsamen Heimatstadt Haldensleben fotografiert, das Bild eines zufriedenen, glücklichen, gutsituierten Rentnerpaares an eine Konstanzer Bank verkaufen können, die es dann als Beispiel zufriedener Kunden in einem riesigen Fenster zur Schau stellte. So sahen die beiden sich bei ihrem nächsten Konstanzbesuch überrascht auf sich selbst herabblicken. Wenn das keine Karriere ist!
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Eine kurze Notiz in der Volksstimme vom 12. Mai 1978 möge noch einmal ins Gedächtnis rufen, dass der Chor des Rates der Stadt Salzwedel anlässlich seines 32. Konzertes drei ehemaligen Lehrern und Chorleitern des Kreises, nämlich den Herren Erich Finke, Fritz Hane und Martin Ehlies, für ihre "Verdienste als Wegbereiter des Chorgesanges unserer Tage" eine besondere Ehrung zuteil werden ließ.
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Erich Finke verstarb im 81. Lebensjahr am 10. Dezember 1979 in Erfurt. Die Trauerfeier fand in der Altstädter Friedhofskapelle in Salzwedel statt. Eine Vielzahl von Trauergästen sowie ein Salzwedeler Chor (er war über viele Jahre stellvertretender Kreischorleiter gewesen) erwiesen ihm mit "Dona nobis pacem" die letzte Ehre. So wurde auf feierliche Weise seiner Verdienste um die Musik gedacht. Erich und Hanna Finke sind auf dem Familiengrab in Hannas Heimatdorf Behnsdorf beigesetzt. So schließt sich der Kreis.
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Epilog
1919 lässt Otto Moosdorf in seiner Erzählung "Das Gedicht" den Prorektor des Neuhaldensleber Lehrerseminars zu seiner Seminarklasse die hehren, vom Zeitgeist geprägten Worte sagen: "Sie werden in Ihrem späteren Berufe eine heilige Verantwortung tragen, die nur die Edelsten und Besten auf sich nehmen können."
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Wie konnte man dieser Verantwortung nach 1933 gerecht werden? Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 stand für Erich Finke endgültig fest, dass er nun nicht mehr hinter Hitler stehen könne, und er trat aus der NSDAP aus. Daraufhin drohte man ihm mit der Entlassung aus dem Dienst. In einer früheren Phase, nachdem er der NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) ein ihm ohne Kenntnis und wider Willen aufgebürdetes Amt zurückgegeben hatte, hatte er schon die Aufmerksamkeit der Partei auf sich gelenkt. Nichtsdestotrotz verbot er den Hitlergruß im Klassenzimmer.
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Am 13. August 1961, ziemlich genau 20 Jahre später, baute die DDR die Mauer mitten durch Berlin. Zum 1. Oktober (die offizielle Mitteilung hierüber fertigte der Rat des Kreises Salzwedel, Abteilung Volksbildung, am 27. September aus), nur Monate nach der Ehrung zum 30-jährigen Dienstjubiläum, wurde Erich Finke mit Frau und Sohn Klaus von Dülseberg (Sperrgebiet) nach Wistedt zwangsversetzt, als späte Bestrafung für die Flucht seiner Tochter in den Westen, für die man ihn sozusagen verantwortlich machte. Hätte er sie zurückgeholt, hätte er bleiben dürfen!
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War er seiner Verantwortung nicht gerecht geworden? Gehörte er nicht zu den Edelsten und Besten, er, dessen Leitspruch war:
Denken, was wahr ist
und fühlen, was schön
und wollen, was gut ist.
Darin erkennt der Geist
Das Ziel des vernünftigen Lebens.
(Plato)
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Hannelore Baum, geb. Finke
im August 2011, 50 Jahre nach dem Mauerbau