1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Salzwedel
  6. >
  7. Gustav Nagel machte den Arendsee berühmt

Geschichte Gustav Nagel machte den Arendsee berühmt

Prophet des einfachen Lebens: Wanderprediger Gustav Nagel hat in den 1920er-Jahren den Arendsee berühmt gemacht.

Von Sibylle Sperling 25.03.2018, 09:52

Arendsee l Zehntausende Berliner ließen sich vom „Kohlrabi-Apostel“ die Zukunft weissagen. Den Nazis prophezeite Gustav Nagel 1942, dass sie den Krieg verlieren würden. 1943 kam er ins Konzentrationslager und nach dem Zweiten Weltkrieg in die Nervenheilanstalt. Bis zu seinem Tod geriet der Reformer mit dem Staat in Konflikt - seine Lebensweise, seine politischen Anschauungen und seine Lehren passten weder ins kaiserliche, faschistische noch ins sozialistische Weltbild. Doch der Altmärker war seiner Zeit weit voraus: Er predigte das einfache Leben in und mit der Natur.
Man stelle sich einen Kurort inmitten weiter Kiefernwälder vor. Ein kristallklarer See, ordentlich gefegte Straßen und hübsche Fachwerkhäuschen. Das 20. Jahrhundert hat begonnen. Wohlhabende Kurgäste aus der Großstadt fühlen sich genauso wohl wie Einheimische. Man erfrischt und vergnügt sich im Strandbad und zwischendrin gibt’s ein Schnitzel mit ’nem Bierchen. Und nebenan hockt einer mit Möhren und Äpfeln bei Wasser, das einfache Leben predigend, der egal, ob die Sonne scheint, es stürmt oder schneit, im See baden geht.
Langbärtig, wallenden Haupthaars sowie barfuß wandert dieser Sonderling umher, angetan mit einem knappen Höschen, Lendenschurz und einem über die Schulter geworfenen Cape. Er träumt von einem Sonnen- und Brausebad á la Kneipp, aber für die Armen. In den 20ern wird aus Gustav Nagels kühner Idee der Garten Eden und der größte Anziehungspunkt der Altmark.
Wer heute den Uferweg zwischen Arendseer Kloster und Strandbad entlangschlendert, wird die niedrigen Säulen am Eingang des Garten Edens übersehen. Treppenreste am Ufer, eine gemauerte Sitzecke aus Sand und Muschelkalk am Eingang, einige Schautafeln auf der Wiese zwischen Koniferen, Obstbäumen und Studentenblumen. Aus dem einstigen Paradiesgarten ist ein schlichtes Wiesengrundstück, das „Gustav-Nagel-Areal“, geworden und das auch nur, weil Christine Meyer (Jahrgang 1942), eine ehemalige Lehrerin und Erzieherin, Jahrzehnte dafür gesorgt hat, dass Nagel nicht in Vergessenheit gerät.
Sie führt gern durch den Garten und erzählt vom Leben des Reformers, das am 28. März 1874 in der Hansestadt Werben beginnt und den sensiblen Jungen mit 14 Jahren nach Arendsee führt. Hier beginnt er eine Kaufmannslehre, genießt die exotischen Waren und die Distanz zum kleinbürgerlichen Werben.
Wäre da nicht seine Gesundheit! Als die Tuberkulose umgeht, wird der Jugendliche sterbenskrank, vegetiert zwischen Leben und Tod. Auf Anfrage seiner Mutter schickt Pfarrer Kneipp seinen therapeutischen Rat und Nagel beginnt, seine Lebensweise umzustellen. Nach einigen Jahren wird er gesund, allein die Natur habe ihn geheilt, behauptet er fortan. Er schwört auf Gott und die Natur und möchte seine neue Lebensweise als Botschaft unter die Menschen bringen.
„Er hielt Vorträge in Berlin. Da ging er natürlich zu Fuß hin, über Rathenow, hatte Unterkunft in Berlin genommen, ging barfuß über die Friedrichstraße, barfuß im tiefen Schnee. Er nahm ja den Pastoren die Konfirmanden weg. … wir haben uns als Kinder einfach dazu gestellt … haben ihn verehrt. Ich mochte sein Leben im Einklang mit der Natur und habe mir alles über ihn gemerkt.“, erzählt Christine Meyer. Mit sechs Jahren hat die Arendseerin ihn das erste Mal gehört, begegnet ihm später im Laden ihres Großvaters, wo er seine eigenwilligen Postkarten verkauft. Bis heute hält ihre Faszination an, 2001 hat sie sich einen Traum verwirklicht und von ihrer Abfindung ein Buch über das Leben des Reformers veröffentlicht.
Christine Meyer berichtet von Wanderjahren, die Nagel zu Fuß bis ins Heilige Land geführt haben und von seiner großen Sehnsucht zur Heimat, die ihn schließlich zurückkehren lässt. Am Arendsee kauft Nagel ein Grundstück, auf dem er ein Sonnen- und Brausebad errichten möchte. Er kommt nicht weit, denn der Ort zeigt sich empört, Nagel muss sein Grundstück abgeben.
1910 eröffnet sich eine zweite Chance, der Naturmensch kauft ein Grundstück am See und beginnt in mühevoller Arbeit seinen Garten Eden zu errichten. Der Prediger ist von der heilenden Kraft des Sees überzeugt. „Aus reicher Reiseerfahrung wissen wir, dass Arendsee ein gottbegnadeter Ort ist, berufen, die Menschen zu heilen, ihnen Erholung, Stärke und Freude zu bieten … da wir mit ganzem Herzen, ganzer Seele und mit ganzem Gemüt an Arendsee hängen, würde es uns zur Genugtuung reichen, wenn wir dazu beitragen könnten, dass Arendsee in das rechte weithin leuchtende Licht gestellt wird.“, schreibt er 1915 im Namen seiner Familie an den Magistrat zu Arendsee.
Zu diesem Zeitpunkt ist Gustav Nagel ohne Einnahmen und bittet die Stadt um finanzielle Unterstützung. Die Ablehnung kommt prompt, doch die einfachen Menschen helfen ihm mit Baumaterial. Aus Muschelkalk, Gesteinsbrocken und Schlacke baut Nagel Seetempel sowie Grotte, einen Musikpavillon, ein Schwanenhäuschen und einen Bootsanlegesteg. Die Behörden setzen unterdessen alles daran, den Naturmenschen für verrückt zu erklären und sein Wirken zu diskreditieren. Doch der Vegetarier, Poet, Liedermacher, Rechtschreib- sowie Lebensreformer verfolgt unbeirrt seinen Weg.
1924 steigt der Arendseer in die Politik ein. Er gründet die „deutsch-kristliche-mittelstands-folkspartei“, lässt sich mehrmals als Reichstagskandidat (1924 erzielt er 4287 Stimmen) aufstellen und prangert öffentlich den Führer an. Man kennt ihn, den Propheten des einfachen Lebens, der mit seiner Frau und den drei Kindern in einer Holzbaracke lebt. Wer 1928 ins Strandbad fährt, geht selbstverständlich bei ihm vorbei. Mehr als 10.000 Besucher kommen in einer Saison, Schulklassen machen Ausflüge und ganze Familienscharen lassen sich im Paradiesgarten mit ihm ablichten - nicht das heilende Wasser sondern Gustav Nagel macht Arendsee in den 20ern zum größten Anziehungspunkt der Altmark.
Vom Verkauf der Eintritts- und Postkarten, die sein alltägliches Leben im Paradiesgarten zeigen, und von Vorträgen lebt er. Kein Fleisch, kein Alkohol, der Schulunterricht soll in die freie Natur, und in der Kirche soll nicht nur der Pfarrer sondern auch die Gläubigen das Wort haben, so die Worte des Wanderpredigers, dem schon bald die Nazis den Mund verbieten. Nagel bekommt 1938 Redeverbot und wird ins Konzentrationslager gesteckt. Nach dem Krieg widmet er sich dem Wiederaufbau des zerstörten Grundstücks. Am 15. Februar 1952 stirbt er an Herzversagen in der Nervenheilanstalt Uchtspringe. Die Meinungen zum Lebensreformer sind auch nach seinem Tod gespalten: Einige finden, Gustav Nagel hätte den Arendsee erst berühmt gemacht, andere wollen Dynamit spendieren, damit nichts mehr an ihn erinnert.